Als
Kind, das Leben vor der Therapie und heute, nach 10 Jahren Therapie?
VORSICHT: TRIGGERWARNUNG !!!
Ich bin Nina Schmitz, 48 Jahre, Künstlerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie aber vor allem bin ich eine Überlebende eines sexuellen Missbrauchs. Meine frühesten Erinnerungen sind an einen Vorfall als ich im Gitterbett stand, Ich seh das Licht durch die verschlossenen Rolladen blitzen. Draußen scheint die Sonne.
Ich bin Nina Schmitz, 48 Jahre, Künstlerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie aber vor allem bin ich eine Überlebende eines sexuellen Missbrauchs. Meine frühesten Erinnerungen sind an einen Vorfall als ich im Gitterbett stand, Ich seh das Licht durch die verschlossenen Rolladen blitzen. Draußen scheint die Sonne.
Der einzige
Zeuge. 1970
Ich nehm an, ich war so zwei Jahre und ich presste meinen
Mund zu – ganz fest zu, damit er nicht mehr hinein konnte. Ich wollte dieses
Gift nicht mehr in mir haben. Das hat ihn so wütend gemacht, dass er mich aus
dem Bett gerissen hat und verprügelt hat. Ich bin oft mit meiner
Traumatherapeutin zu diesem kleinen Mädchen gereist. Sie liegt in einem weißen
Bett und hat sich entschieden zu sterben. Sie ist wie in Watte gepackt, nicht
mehr da, als würde sie fliegen, schweben, alles ist still, es gibt keine
Geräusche mehr.
Selbstportrait. 2013/1970
Er hat es nicht geschafft mich von Hinten zu penetrieren,
aber er hat es versucht und zugeschlagen - in meiner rechten Hüfte sitzt der
Schmerz noch immer. Ich habe Hornhaut auf der Oberseite des rechten Fußes, weil
ich ihn immer unter den Po schiebe, damit der Knochen nicht so weh tut. Er tut
immer noch weh, bei jeder Yogastunde spüre ich ihn, 46 Jahre später. Zeit heilt
keine Wunden. In der Schule hatte ich etliche Eintragungen wegen nicht
ordentlich sitzen, weil ich meinen Fuß immer hochgenommen habe unter meinen Po.
Ich presse bis heute meine Zunge gegen den Gaumen und jeden Tag beim
Zähneputzen, zum Glück gibt’s seit ich 14 bin Solezahncreme, die nicht so
schäumt, kämpfe ich damit nicht zu kotzen. Das fällt alles nicht auf, wenn ich
in der Welt so rumlaufe. Die Menschen denken, ich wäre mutig und taff. Ich wäre
eine coole Künstlerin und beliebt bei den Menschen. Doch in Wirklichkeit war
ich, ich hier drinnen die ganzen Jahre nicht da, war ich nicht anwesend, nicht
erreichbar. Für mich nicht und niemanden von Außen.
1995, mit 27
Jahren
Ich habe viele Überlebensstrategien entwickelt im Laufe
meines Lebens. Auch das hier ist eine. Schreiben, Reden, endlich offenbaren,
was so lange verdeckt war. Dabei bin ich unendlich schüchtern und die meiste
Zeit meines Lebens bin ich alleine. Ich weine viel, halte mich und tröste mich.
Und während ich dies schreibe habe ich riesen Aufregungsflecke unter den Armen.
Ich habe Angst. Angst nicht geliebt zu werden. Angst niemals einen Platz zu
finden an dem ich so sein kann, wie ich innen wirklich bin. Angst, dass ich
niemals einen Mann finden werden, bei dem ich mich so zeigen kann wie ich bin
und mich nicht leicht machen muss – Ja, ich hab immer Angst, dass ich zu schwer
bin. Zu anstrengend. Zu zu. Und ich hab Angst vor dem Alleinsein und Angst vor
Menschen. Angst vor zu viel Input und Angst vor der langen Weile des Nichts.
Vor diesem weißen Bett in dem ich sterben wollte. Ich nehme meine Angst an die
Hand und gehe langsam weiter. Ich kann inzwischen gut gehen. Mir geht es gut.
Früher habe ich nie
gefühlt, dass ich eine schöne Frau bin. Ich fand mich hässlich und habe mich
geschämt. Weil das nicht erträglich war, habe ich mir als Überlebensstrategie
antrainiert immer cool zu tun, eine bestimmte Sorte Anziehsachen zu tragen, mit
der ich erfolgreich durch kam – auffällig genug, dass ich gesehen wurde und nicht verhungere,
unauffällig genug, dass keiner sich wagen würde mich anzufassen. So musste
stark wirkende Boots immer zu Miniröcken sein – das war eine Aussage, die
Männern klar macht: wag es nicht mich anzusprechen oder du bekommst einen in
die Fresse. Ich bin nie in meinem Leben von einem Mann angemacht worden – das
hätte keiner gewagt. Aber aus der Tatsache, dass alle Mädchen in meiner
Nähe auf lang oder kurz von irgendwem angemacht wurden und ich nicht, schloss
ich, dass ich wohl hässlich sein musste und schämte mich für mein Aussehen. Irgendwas
war eben anders an mir und ich wusste nicht was, nur das ich anders war. Er hat
immer gesagt, dass jeder, wenn er mir Nahe käme begreifen würde, was ich für
ein Luder wäre. Also ließ ich keinen nahe kommen, auch wenn ich nicht wusste
was ein Luder war.
Selbstportrait
1990/2013 bemalt
Ich weiß oft nicht, was schlimmer war, diese Übergriffe von
meinem Stiefopa oder das es keinen Raum gab darüber zu reden. Das da niemand
war, der mich getröstet hat, der mich beschützt hat. Das da noch nicht mal
jemand war, der mir geglaubt hat – ich konnte nicht darüber reden, wie auch,
in mir gab es keine Worte dafür. Ich habe mich an nichts erinnert bis vor ein
paar Jahren. Ich habe mich total dissoziiert von dem was geschehen war, eine
gute, lebensbeschützende Strategie meines Systems, doch auf Dauer zeigt sich
die doofe Nebenwirkung, dass ich mich auch von mir abgetrennt habe. Ich lernte
damit alleine klar zu kommen, ohne zu Wissen was es war, denn alles Greifbare
war weg. Selbst seine grabschenden Hände, die ich noch mit sechzehn zu spüren
bekam, blendete ich immer wieder aus. Als meine Oma starb war ich fünf. Zum
Glück brach damit der Kontakt zu ihm fast komplett ab. Ich sagte nie was, ich
wich ihm aus, entwand mich aus seinem Gegrabsche. Ich war sogar auf seiner
Beerdigung, völlig gefühlslos. Nie hat ihm jemand was gesagt. Nie hat das Dorf
sich eingeschaltet. Nichts. Und ja, sie wussten es alle.
Ich hatte Glück dass ich wundervolle Eltern habe, die mir
ganz früh einen kreativen Weg offenbart haben, den sie als Pädagogik und Kunststudenten
der 68er lehren wollten. Ich durfte malen und basteln soviel ich wollte. Ich
bemalte mich und Papier und Wände und wurde geliebt dafür.
1971
Bis heute ist meine Kreativität mein Überlebensweg. Meine
Eltern waren da für mich und sie liebten mich sehr. Wenn sie da waren. Wenn sie
studierten war ich bei Oma und Stiefopa. Mit vier Monaten gaben sie mich das
erste Mal für mehrere Wochen dort hin. Wenn sie mich sonntags besuchten, war
das der Himmel für mich und ihre Abreise der super Horror. Ich klammerte mich
an Mamas Bein und wollte mit. Es gab einen Platz im Garten unter einer Tanne
von wo aus man die Strasse sehen konnte. Dort saß ich oft und wartete, dass sie
kamen. Oder am Fenster in der Fernsehstube, von dort sah man die Strasse auch.
Wie oft hab ich das kleine Mädchen schon dort abgeholt und sie tröstend hier
nach Berlin in meine sichere Wohnung geholt.
Ja klar, hab ich mich in den 30 Jahren in denen ich wütend
auf meine Eltern war, tausend Mal gefragt, wieso haben sie mich dort hin
gegeben, obwohl meine Mutter vom selben Mann sexuell missbraucht wurde? Weil
sie genauso dissoziiert war, wie ich und weil sie unbedingt alles anders machen
wollte. Sie wollte studieren und eigenes Geld haben, damit sie niemals so
abhängig von einem Mann wäre, wie ihre Mutter von ihm – sie hat es getan um
mich zu schützen und hat mich dadurch gefährdet. Wie krass das für sie sein muss.
Sie hat mir immer die Haare kurzgeschnitten – ich hab sie dafür gehasst, dass
sie meine geliebten Haare abschneidet und ich weder Puppen noch Kleider haben
durfte. Heute weiß ich die Liebe und Sorge in dieser Geste zu schätzen. Als
Kind habe ich nur gesehen wie grässlich es war immer wieder mit einem Jungen
verwechselt zu werden. Ich wäre so gerne Mädchen gewesen. Es half. Auf eine Art
half es, weil ich eine taffe, freche Rolle einstudierte. Mit Pipi Langstrumpf
und der roten Zora als Vorbilder entwickelte ich mich zu einem rotzfrechen
Mädchen, was immer aufmüpfig war. Mama sagte immer, wir gehen mit aufrechtem
Gang und kämpfen gegen die Ungerechtigkeit. Sie gingen auf die Strasse für
Amnesty, für Kriegsdienstverweigerer und Frieden. In unserem Dorf wurden wir eh
komisch angesehen. Meine Eltern waren beide unehelich geboren und das in einer
katholisch konservativen Region. Sie hatten eine Tugend daraus gemacht – aus
dem Außenseiter sein: kein Sportverein, kein Schützenverein, keine Kirche – dafür
waren sie die ersten aus dem Dorf, die studieren gingen. Sie gründeten die
Grünen, wurden Ökos und lasen Unmengen von Büchern über ungerecht behandelte
Außenseitergruppen wie die Natives in Amerika. Ich lernte sehr viel von ihnen
und bin dankbar für diesen Teil meiner Kindheit, weil der mich überleben ließ.
Ich hab die Welt immer anders angesehen als die anderen
Mädchen. Als die Jungs aus meiner Klasse ein Zeugen Jehova Mädchen hänselten
hab ich sie verprügelt. Nicht das ich damit wahnsinnig erfolgreich gewesen wäre
– ich war weder eine Schlägerin noch besonders groß oder stark – aber sie
ließen sie in Ruhe. Ich verstand durch diese Situation den Unterschied zwischen
ihr und mir. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen in einer ohnmächtigen
Opferrolle zu sein, obwohl ich spürte, dass ich wie sie nicht dazu gehörte.
Irgendwas in mir, ließ mich immer mein Kinn hoch tragen und niemand hätte
gewagt mich zu hänseln. Immer wieder geriet ich in solche Situationen, dass Menschen
misshandelt wurde und ich dazwischen ging. Ich hab mich mal in der U-Bahn auf
dem Rücken eines riesen Kerls festgekrallt, damit er aufhörte einen kleineren
Mann zu verprügeln. Er hörte auf. Ich hatte immer Erfolg damit. Die Kehrseite
war, dass ich als Frau nicht ankam. Männer hatten so was wie Angst vor mir. Ich
weiß nicht genau. Den meisten war auf jeden Fall zu krass. Aber über diese
taffe, zu laute, coole Art hatte ich Erfolg. Darüber konnte ich in Kontakt
gehen. Nicht verbunden, aber irgendwie dabei sein.
Sowohl die viel zu frühe Sexualisierung durch meinen
Stiefopa, wie die Distanz meines Vaters, der sich nie getraut hat eine
natürlich Nähe zu seinen Töchtern aufzubauen, gab es in mir eine völlig
verdrehte Idee über Liebesbeziehung. Wie oft habe ich das erlebt, bei mir und
auch bei Patientinnen: wir wiederholen so lange die unheilvollen Erlebnisse,
inszenieren sie unbewusst nach, wieder und wieder die gleichen Erfahrungen, bis
wir endlich anhalten und hinschauen. Ich provozierte meine Partner zur Gewalt,
zu dissoziativen Sex und natürlich alles in einem Klima des Nichtredens. Denn
eines hatte ich schon als kleinstes Kind gefressen: das Reden mich umbringen
würde, mich dann jeder hassen und verlassen würde, also schwieg ich. Und zankte
auf einem anderen Kriegsschauplatz darum endlich gesehen und geliebt zu werden.
Ist mir bisher nicht gelungen. Seit acht Jahren bin ich lieber allein.
Selbstportrait
1990, rechte und linke Hälfte nicht verbunden.
Meinen ersten Schwung Therapien machte ich mit Anfang
zwanzig um aus der Magersucht zu heilen. Doch als die Frage nach sexuellem
Missbrauch das erste Mal auftauchte, am Ende der dreijährigen Analyse, brach
mein ganzes System zusammen. Ich verdächtigte meinen Vater, auf meinen Stiefopa
kam ich gar nicht und als Folge davon brach meine Familie über viele Jahre den
Kontakt zu mir ab. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das wieder gut machen kann. Ich weiß, was ich wollte - das war Hilfe und endlich gehört werden. Da war niemand der mir glaubte, dass dieser Knoten in mir so weh tat, dass ich dachte sterben zu müssen. Ich wiederholte mein erstes Trauma, das Verlassenwerden von
der Familie. Um zu überleben stürzte ich mich in die Arbeit. Ich erholte mich langsam davon, brach alle Therapien ab.
Das passierte zum Beginn meines Kunststudiums an der Kunstakademie in Düsseldorf.
Das passierte zum Beginn meines Kunststudiums an der Kunstakademie in Düsseldorf.
Und wie der Zufall es so wollte, kam ich auf die Idee,
Huren zu fotografieren. Ich suchte in Bordellen Frauen, die ich fotografieren
konnte und fand sie. Schon nach einer Woche hatte ich eine Frau kennengelernt,
die in der Hurenbewegung arbeitete und zufällig war eine Woche später der
Jahreskongress der Hurenbewegung in Düsseldorf und sie schleppte mich mit
dahin. Ich lernte ich sie alle kennen, die großen Frauen der Hurenbewegung, die
damals in allen großen Talkshows für die Anerkennung des Berufes Hure saßen. Wir
befinden uns Anfang der 90er. Es war eine wilde Zeit, in der ich das erste Mal
politisch arbeitete. Ich gründete eine unabhängige Selbsthilfegruppe in
Düsseldorf, die in der Frauenberatungsstelle ansässig war. Unabhängig in so
fern, dass sie nicht mit der Kontrollbehörde, dem Gesundheitsamt, kooperierte.
Ich fuhr viel im deutschsprachigem Raum umher und besuchte Bordelle,
Nightclubs, Puffstrassen, Straßenstriche – alles was es hier so gibt und machte
Fotos. Ich lernte viel über das Rotlichtmilieu. Das ist noch mal, wie vieles
eine ganz eigene Geschichte.
Selbstportraits, 1990
Das wichtigste war die Erfahrung, dass ich kein einziges
meiner Vorurteile bestätigt fand. Da waren weder Zuhälter, noch Zwänge, noch
Drogen. Ja, das gibt es, aber eben nicht mehr als es im Rest der Gesellschaft
schlagende Partner gibt oder den Zwang eine Arbeitsstelle zu behalten, die man
zum kotzen findet oder wie Menschen jeder Gesellschaftsschicht Drogen nehmen.
Es ist nicht so, dass in der Berufsgruppe der Huren diese Phänomene besonders
hervortreten. Und ich lernte noch etwas über Vorurteile: keiner gibt sie auf.
Sie sind festgeschrieben, wie in Stein gemeißelt. Ich konnte mir den Mund
fusselig reden bei all den Leuten, die angeblich nie nie ins Bordell gingen
oder gehen würden - mir hat keiner geglaubt. Ich hängte Fotoportraits von
Frauen aus dem Rotlichtmilieu neben andere Frauen ohne deren Beruf zu benennen
und natürlich gab es ein Who is Who Spiel damit und natürlich hatte keiner der
Betrachter recht. Das war eine schockierende Erfahrung und ich gab das
politische Kämpfen auf. Damals. Denn es entsprach meinem damaligen
Erfahrungshorizont, denn auch in meinem Leben hatte ich meine Familie verloren,
weil ich auf der Suche nach Wahrheit ihre Gefühle zu sehr angetriggert hatte - doch
das kapierte ich damals nicht.
Ich ging nach Innen, rauß aus der Öffentlichkeit - bekam
zwei Töchter, heiratete und schloss mein Studium ab. Heute sehe ich, wie gut
das war, denn ich baute mir eine Base auf der ich stehen konnte. Machte meine
erste 3-jährige Ausbildung in Sachen Heilung. Ich wurde sehr erfolgreich als
Künstlerin und auf dem Höhepunkt meiner Karriere, bevor ich das zweite Mal
zusammenbrach nach Scheidung und Firmenpleite, befasste ich mich wieder mit
einer Außenseitergruppe. Ich machte Werbefilme für Müllmänner, die ich als
Helden darstellte. Es war ein wundervolles Projekt für mich, weil ich diesmal
den Erfolg sehen konnte. Ich sah, wie gut diese Kampagne den Müllmännern tat
und das ich sie für die Müllmänner gemacht hatte, nicht für Finanzerfolg der
Geschäftsführung. Es gab einen Augenblick, der mich das erste Mal in meinem
Leben wirklich aufschauen ließ. Das war als ich mit dem Leiter der
Kommunikationsabteilung der AWISTA unseren ersten Film über die Jungs der
Müllabfuhr in der Kantine morgens um sechs abspielte. Ich werde das nie
vergessen, wie die Jungs aufsprangen und jubelten, wie sie Standingovations
gaben. Solch eine Euphorie hatte ich noch nie erlebt. Und sie galt nicht mir,
sie galt den Jungs auf der Leinwand. Sie bejubelten ihre eigenen Jungs. Sie
waren so stolz und glücklich. Ich stand da mit Tränen in den Augen und begriff,
dass hier an dieser Stelle Kunst genau richtig ist. Blauperückte Müllmänner. Und
sie jubelten, weil sie gesehen und gewürdigt waren. Es war so viel Freude und Spaß
dabei. Wunderschön.
Ich castete für den Kinowerbefilm nur aus den Müllmännern,
fand dort sogar eine Band, die mir den Musiktitel für den Kinospot vertonte.
Ein Jahr lang fuhren sie die Filmplakate auf ihren Trucks durch die Stadt,
posteten ihre Zeitungsartikel über die Dreharbeiten in ihren Windschutzscheiben
und sie strahlten, sie wuchsen. Ich habe dort das erste Mal im Leben etwas
bewegt. Ich habe gesehen, dass Veränderung funktioniert und wie wundervoll das
sein kann. Menschen, die nicht gesehen werden, sichtbar zu machen. Menschen,
die wie der letzte Dreck behandelt werden, als Helden dazustellen. Ich wusste
nicht, wieviel das mit mir zu tun hatte, heute weiß ich das, dass diese
Müllmänner für all die ungesehenen Anteile in uns allen standen, die nicht
gesehen werden.
2007
Müllmänner krempeln die Arme hoch, wo wir anderen alle
wegschauen. Sie schauen der Wahrheit ins Gesicht und räumen auf. Das hat viel
mehr mit uns zu tun, als wir denken. Gesellschaftlich betrachtet gibt es ne
Menge Scheiße aufzuräumen, besonders im Hinblick auf sexuellen Missbrauch. Ich
wünschte, wir wären alle so mutig und zupackend wie die Müllmänner. Ich bin
über ein Jahr mit ihnen auf ihren Trucks gefahren. Es sind kluge, klare
anpackende Männer. Derb und Ehrlich. Ich lieb Müllmänner sehr!
Ich schaffte es nicht, dieses Projekt wo anders erneut zu
starten. Ich schaffte es nicht meine Ehe zu halten. Ich schaffte es nicht
stehen zu bleiben. Ich brach zusammen. Das war 2008. Der Zusammenbruch dauerte
mehrere Jahre in denen ich dagegen ankämpfte. Ich versuchte noch ein Projekt
und noch mehr Arbeit und hab noch ein Buch geschrieben und noch eins und nichts
klappte mehr. 2011 gab ich endlich auf und ging in Traumatherapie. Als ich das
meiner Familie mitteilte, trennte sie sich erneut von mir. Diesmal war es mir
vorher klar und ich hatte vorher schon den Entschluss gefasst, dass ich dennoch
weiter in Therapie bleibe. Ich baute mir ein festes Netz. Jeden Tag in der
Woche hatte ich einen Heiltermin. Selbsthilfegruppe, Traumatherapeutin,
Aufstellungsausbildung, Heilkreise, Gruppentherapie – alles gleichzeitig. Das
hab ich gebraucht und das war genau richtig für mich.
Ich war so stark dissoziiert, dass ich jeden Tag eine
Erinnerung daran brauchte, wo es lang ging. Ich konnte nicht in die Klinik
gehen und auch keine Pharmazie schlucken. Das war nicht drin. Aus meiner
eigenen Erfahrung dass ich meine Eltern mit vier Monaten das erste Mal verloren
hatte, stand für mich fest, dass ich meine Töchter niemals verlassen würde.
Also brauchte ich einen klaren Weg bei dem ich hier zu Hause bleiben konnte.
Ich war auf Hartz 4 und hatte nicht viel Geld, doch irgendwie funktionierte es.
Ich konnte viel über die Heilpraktikerversicherung abrechnen, stotterte
Therapiegelder ab. Bekam viele Heilsitzungen geschenkt, baute selber Heilkreise
auf und schöpfte alles aus, was die Kasse zahlte. Ich lernte Meditieren und
Yoga – das sind meine beiden Standbeine, die mich jeden Tag seitdem erden und
mit mir drinnen verbinden. Ich lernte Innere Kind Übungen, ebenfalls eine
Standartübung, die ich inzwischen fünf Jahre lang schon mache.
Inzwischen bin ich ausgebildete Schamanin, Heilpraktikerin
für Psychotherapie, hab Aufstellen gelernt, meine eigene Therapie beendet und
meine Praxis eröffnet. Ich habe ein eigenes Format der Selbsthilfe entwickelt,
die 13 Schritte, die ich lehre. Ich stehe gut da. Ich kann heute alleine sein
mit mir, was eine große Leistung ist. Früher bin ich immer ausgegangen, wenn
ein Gefühl in mir hochkam. Ich konnte nicht alleine sein. Ich kann heute meine
Tage genießen, ich liebe mein Leben. Die Zeit mit meinen Kindern, mit meinen
Freunden ist so wertvoll. Ich hab Freunde. Das ist auch neu. Ich kann mich
komplett auf andere Menschen konzentrieren und gleichzeitig bei mir bleiben.
Früher habe ich nur von mir erzählt und gleichzeitig geschaut, was andere
brauchten und versucht alles allen recht zu machen. Und das obwohl ich
gleichzeitig nicht über meinen Tellerrand sehen konnte. So vieles hat sich
verändert. Ich spüre es, wenn ich mit meinem Enkelkind spiele. Ich kann da sein
voller Liebe und Stille über einen langen Zeitraum – daran war früher nicht zu
denken.
Eine große Lektion war auch das Lernen für die Heilpraktikerprüfung. Ich konnte mich früher nicht konzentrieren. Ein Studium bei dem ich Wissen hätte lernen müssen, daran war nicht zu denken. Ich konnte weder Prüfungen standhalten, noch irgendwas behalten oder mich länger als ein paar Sekunden auf etwas konzentrieren. Filme machen oder Kunst war da optimal, alles was Multitasking brauchte, konnte ich gut – dieses dauernd hin und her springen der Gedanken – aber bei einer Sache bleiben, dass war nicht möglich. Ein halbes Jahr habe ich jeden Tag vier Stunden gelernt und es ging weniger um das Wissen als um die Fähigkeit der Konzentration, die ich erlernen musste.Vielleicht hört sich das komisch an, aber ich war mega stolz auf mich, dass ich diese Prüfung direkt geschafft habe.
Eine große Lektion war auch das Lernen für die Heilpraktikerprüfung. Ich konnte mich früher nicht konzentrieren. Ein Studium bei dem ich Wissen hätte lernen müssen, daran war nicht zu denken. Ich konnte weder Prüfungen standhalten, noch irgendwas behalten oder mich länger als ein paar Sekunden auf etwas konzentrieren. Filme machen oder Kunst war da optimal, alles was Multitasking brauchte, konnte ich gut – dieses dauernd hin und her springen der Gedanken – aber bei einer Sache bleiben, dass war nicht möglich. Ein halbes Jahr habe ich jeden Tag vier Stunden gelernt und es ging weniger um das Wissen als um die Fähigkeit der Konzentration, die ich erlernen musste.Vielleicht hört sich das komisch an, aber ich war mega stolz auf mich, dass ich diese Prüfung direkt geschafft habe.
Es ist nicht so, dass ich nun, wo meine Therapie
abgeschlossen ist, alles wieder fit ist in mir, so wie bei von Beginn an
gesunden Menschen. So wird es nie sein. Ich muss jeden Tag meine Übungen
machen. Tue ich das nicht, falle ich sofort zurück in den alten Nebel der
Dissoziation.
2013 war es, als ich
bemerkte, dass mein Gedächtnis noch schlechter wurd als vorher. Ich hatte damals
trotz der Traumatherapie noch keine Erinnerung und ich spürte, dass ich immer
mehr in der Amnesie landete. Mein Kopf fühlte sich immer mehr wie Watte an, ich
saß sozusagen grinsend in der Ecke, lachte zu laut, hüpfte zu wild, ging nur
noch Tanzen und meine Wahrnehmung war Nebel. Ich konnte keinen Gedanken länger
als Sekunden halten. Und wehe einer kam und sagte was gegen mein Konstrukt was
ich mir zur Tarnung gebaut hatte, dann stritt ich. Als ich bemerkte, dass ich
sogar meine Kinder vergesse und ich mehr und mehr meinen Alltag nicht mehr
organisieren konnte, bekam ich echt große Angst – ich spürte, dass ich alles
verliere, was mir etwas bedeutet – und ich wusste intuitiv, dass mein einziger
Weg war, dass ich mich konfrontiere. Ich musste lernen damit klar zu kommen,
was ich immer verdrängte. Ich musste lernen zu tragen, was ich an schlimmen
Gefühlen in mir hatte – ich wusste ganz genau, dass ich ansonsten noch mehr
abdriften würde. Ich ging damals sechs Wochen mit meiner großen Tochter auf den
Jakobsweg und ich hatte ein Motto für mich: Ich laufe jetzt zurück ins Leben.
Ich will mich erinnern! Jeden Tag, bei jedem Schritt habe ich dieses Mantra
gedacht: ich will mich erinnern. Ich hab sie gerufen, die Erinnerungen. Es dauerte
noch bis Ende des Jahres, auf einem Meditationsretreat, 10 Tage Schweigen und
12 Stunden täglich meditieren, brachten endlich den Durchbruch: eine
Überschwemmung von Bildern. Das waren krasse Tage. Plötzlich war alles wieder
da. Glasklar die Bilder, als hätte jemand eine Filmdose geöffnet. Es war ein
Wendepunkt in meinem Leben. Ich kann es nicht besser erklären, aber zu
dissoziieren fühlt sich an wie sterben. Mir wird immer noch schlecht und es ist
grauenhaft die Vorstellung noch mehr oder wieder solch ein Zombi zu werden, der
sich nicht spürt. Da will ich nie wieder hin zurück! Und ich sah über all die
Jahre, dass meine Kinder mich nachmachten in allem was ich ihnen vormachte und
als ich bemerkte, dass sie auch meine Überlebensstrategien übernahmen und sich
selber zum Zombi machten, damit ich nicht ihr Leid auch noch spürte – da war
total klar, so geht das nicht weiter. Es kann nicht eine Generation nach der
anderen heran wachsen und alles geht weiter und weiter... Ja, meine Kinder
waren ein Motor. Ich habe mir 2013 geschworen, dass ich aufwachen will, dass
ich mich erinnern möchte, dass ich lieber alle Schmerzen fühle als ein Zombi zu
sein. Ich will Wahrheit, ich will alles spüren, lieber jede Hölle spüren als
meine Kinder verlieren, als im Nebel des Vergessens unterzugehen. Immer wieder,
jeden tag, egal wie lange es dauert. Ich will meinen Kindern diesen Weg zeigen
und ich werde ankommen in der Heilung damit meine Kinder diesen Weg nicht gehen
müssen.
Und ich ging durch
die Hölle und habe mich darin gefunden. Es war großartig, doch auch das ist
eine weitere Geschichte. Und jetzt bin ich hier. Ich spüre mich, ich sehe mich,
ich liebe mich und ich liebe dieses Leben mehr denn je. Ich achte meinen
Lebenswillen, meinen Mut, meine Kraft. Ich bin so stolz auf meinen Weg. Wenn
ich mich heute mit meinen Töchtern sehe, weiß ich, dass sich alles gelohnt hat.
Jetzt sind wir zusammen und verbunden. Und wir sind im Hier und Jetzt und
können lachen und weinen. Ich weiß wie ich die Gleichzeitigkeit der Gefühle
lebe. Es gibt ein dauerhaftes Glücksgefühl in mir, auch wenn mit innere Stürme
packen oder ein neuer Prozess in mir ansteht. Nichts wirft mich mehr um. Doch das geht nicht
einfach so. Ich muss jeden Tag meditieren und meine Übungen machen, die mich
mit Innen verbinden. Würde ich das nicht tun, würde ich wieder dissoziieren. Da muss ich total wachsam und diszipliniert sein. Nach ein paar Stunden hier am Computer muss ich anhalten.
An manchen Tagen kann ich nicht arbeiten und ich weine nur. Das wird immer
besser, aber nur mit kontinuierlichen Übungen. Ich werde nie wieder so
Leistungsfähig sein, wie ich früher war als ich Arbeiten zur Ablenkung
betrieben habe. Und den äußeren Ansprüchen zu genügen, bzw damit klar zu
kommen, dass ich nicht genüge, fällt mir immer noch schwer.
Ich bin langsam wie
eine Schnecke, sensible wie eine Mimose, feingliedrig und beweglich wie eine
Elfe – und das alles ist mein Potential. Nicht mein Dilemma. Genauso wie ich stark bin wie ein Bär
und brüllen kann wie ein Drache, kämpfen wie ein Tiger. Mir macht keiner mehr
was vor und ich steh auf meinen Beinen. Das alles hab ich gelernt auf diesem
Weg und das ist mein Gewinn. Ein Gewinn, den ich ohne diese Erfahrungen niemals
in mir entdeckt hätte.
Und in der Arbeit mit
Menschen nach einem sexuellen Missbrauch, ist es genau das, was ich brauche. Ich
kann sie spüren, ihre Wunden, ihre Verletzlichkeit, ihre Feinheit, ihre Liebe
darunter und gleichzeitig bin ich stark genug um das Feld zu halten. Ich geh in jede Hölle und komm auch wieder raus. Mit nem Korb voller Gold komm ich aus jeder Hölle raus.
Ich werd bald 50 und
ich hab noch ne Menge vor.
Nina Schmitz,
November 2016