Dienstag, 29. November 2016

Wie ist das Leben nach einem sexuellen Missbrauch?

Als Kind, das Leben vor der Therapie und heute, nach 10 Jahren Therapie?

VORSICHT: TRIGGERWARNUNG !!!
Ich bin Nina Schmitz, 48 Jahre, Künstlerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie aber vor allem bin ich eine Überlebende eines sexuellen Missbrauchs. Meine frühesten Erinnerungen sind an einen Vorfall als ich im Gitterbett stand, Ich seh das Licht durch die verschlossenen Rolladen blitzen. Draußen scheint die Sonne. 

     Der einzige Zeuge. 1970

Ich nehm an, ich war so zwei Jahre und ich presste meinen Mund zu – ganz fest zu, damit er nicht mehr hinein konnte. Ich wollte dieses Gift nicht mehr in mir haben. Das hat ihn so wütend gemacht, dass er mich aus dem Bett gerissen hat und verprügelt hat. Ich bin oft mit meiner Traumatherapeutin zu diesem kleinen Mädchen gereist. Sie liegt in einem weißen Bett und hat sich entschieden zu sterben. Sie ist wie in Watte gepackt, nicht mehr da, als würde sie fliegen, schweben, alles ist still, es gibt keine Geräusche mehr.

     Selbstportrait. 2013/1970

Er hat es nicht geschafft mich von Hinten zu penetrieren, aber er hat es versucht und zugeschlagen - in meiner rechten Hüfte sitzt der Schmerz noch immer. Ich habe Hornhaut auf der Oberseite des rechten Fußes, weil ich ihn immer unter den Po schiebe, damit der Knochen nicht so weh tut. Er tut immer noch weh, bei jeder Yogastunde spüre ich ihn, 46 Jahre später. Zeit heilt keine Wunden. In der Schule hatte ich etliche Eintragungen wegen nicht ordentlich sitzen, weil ich meinen Fuß immer hochgenommen habe unter meinen Po. Ich presse bis heute meine Zunge gegen den Gaumen und jeden Tag beim Zähneputzen, zum Glück gibt’s seit ich 14 bin Solezahncreme, die nicht so schäumt, kämpfe ich damit nicht zu kotzen. Das fällt alles nicht auf, wenn ich in der Welt so rumlaufe. Die Menschen denken, ich wäre mutig und taff. Ich wäre eine coole Künstlerin und beliebt bei den Menschen. Doch in Wirklichkeit war ich, ich hier drinnen die ganzen Jahre nicht da, war ich nicht anwesend, nicht erreichbar. Für mich nicht und niemanden von Außen.


     1995, mit 27 Jahren

Ich habe viele Überlebensstrategien entwickelt im Laufe meines Lebens. Auch das hier ist eine. Schreiben, Reden, endlich offenbaren, was so lange verdeckt war. Dabei bin ich unendlich schüchtern und die meiste Zeit meines Lebens bin ich alleine. Ich weine viel, halte mich und tröste mich. Und während ich dies schreibe habe ich riesen Aufregungsflecke unter den Armen. Ich habe Angst. Angst nicht geliebt zu werden. Angst niemals einen Platz zu finden an dem ich so sein kann, wie ich innen wirklich bin. Angst, dass ich niemals einen Mann finden werden, bei dem ich mich so zeigen kann wie ich bin und mich nicht leicht machen muss – Ja, ich hab immer Angst, dass ich zu schwer bin. Zu anstrengend. Zu zu. Und ich hab Angst vor dem Alleinsein und Angst vor Menschen. Angst vor zu viel Input und Angst vor der langen Weile des Nichts. Vor diesem weißen Bett in dem ich sterben wollte. Ich nehme meine Angst an die Hand und gehe langsam weiter. Ich kann inzwischen gut gehen. Mir geht es gut.
Früher habe ich nie gefühlt, dass ich eine schöne Frau bin. Ich fand mich hässlich und habe mich geschämt. Weil das nicht erträglich war, habe ich mir als Überlebensstrategie antrainiert immer cool zu tun, eine bestimmte Sorte Anziehsachen zu tragen, mit der ich erfolgreich durch kam – auffällig genug, dass ich gesehen wurde und nicht verhungere, unauffällig genug, dass keiner sich wagen würde mich anzufassen. So musste stark wirkende Boots immer zu Miniröcken sein – das war eine Aussage, die Männern klar macht: wag es nicht mich anzusprechen oder du bekommst einen in die Fresse. Ich bin nie in meinem Leben von einem Mann angemacht worden – das hätte keiner gewagt. Aber aus der Tatsache, dass alle Mädchen in meiner Nähe auf lang oder kurz von irgendwem angemacht wurden und ich nicht, schloss ich, dass ich wohl hässlich sein musste und schämte mich für mein Aussehen. Irgendwas war eben anders an mir und ich wusste nicht was, nur das ich anders war. Er hat immer gesagt, dass jeder, wenn er mir Nahe käme begreifen würde, was ich für ein Luder wäre. Also ließ ich keinen nahe kommen, auch wenn ich nicht wusste was ein Luder war.

      Selbstportrait 1990/2013 bemalt

Ich weiß oft nicht, was schlimmer war, diese Übergriffe von meinem Stiefopa oder das es keinen Raum gab darüber zu reden. Das da niemand war, der mich getröstet hat, der mich beschützt hat. Das da noch nicht mal jemand war, der mir geglaubt hat – ich konnte nicht darüber reden, wie auch, in mir gab es keine Worte dafür. Ich habe mich an nichts erinnert bis vor ein paar Jahren. Ich habe mich total dissoziiert von dem was geschehen war, eine gute, lebensbeschützende Strategie meines Systems, doch auf Dauer zeigt sich die doofe Nebenwirkung, dass ich mich auch von mir abgetrennt habe. Ich lernte damit alleine klar zu kommen, ohne zu Wissen was es war, denn alles Greifbare war weg. Selbst seine grabschenden Hände, die ich noch mit sechzehn zu spüren bekam, blendete ich immer wieder aus. Als meine Oma starb war ich fünf. Zum Glück brach damit der Kontakt zu ihm fast komplett ab. Ich sagte nie was, ich wich ihm aus, entwand mich aus seinem Gegrabsche. Ich war sogar auf seiner Beerdigung, völlig gefühlslos. Nie hat ihm jemand was gesagt. Nie hat das Dorf sich eingeschaltet. Nichts. Und ja, sie wussten es alle.

Ich hatte Glück dass ich wundervolle Eltern habe, die mir ganz früh einen kreativen Weg offenbart haben, den sie als Pädagogik und Kunststudenten der 68er lehren wollten. Ich durfte malen und basteln soviel ich wollte. Ich bemalte mich und Papier und Wände und wurde geliebt dafür.

  


      1971

Bis heute ist meine Kreativität mein Überlebensweg. Meine Eltern waren da für mich und sie liebten mich sehr. Wenn sie da waren. Wenn sie studierten war ich bei Oma und Stiefopa. Mit vier Monaten gaben sie mich das erste Mal für mehrere Wochen dort hin. Wenn sie mich sonntags besuchten, war das der Himmel für mich und ihre Abreise der super Horror. Ich klammerte mich an Mamas Bein und wollte mit. Es gab einen Platz im Garten unter einer Tanne von wo aus man die Strasse sehen konnte. Dort saß ich oft und wartete, dass sie kamen. Oder am Fenster in der Fernsehstube, von dort sah man die Strasse auch. Wie oft hab ich das kleine Mädchen schon dort abgeholt und sie tröstend hier nach Berlin in meine sichere Wohnung geholt.
Ja klar, hab ich mich in den 30 Jahren in denen ich wütend auf meine Eltern war, tausend Mal gefragt, wieso haben sie mich dort hin gegeben, obwohl meine Mutter vom selben Mann sexuell missbraucht wurde? Weil sie genauso dissoziiert war, wie ich und weil sie unbedingt alles anders machen wollte. Sie wollte studieren und eigenes Geld haben, damit sie niemals so abhängig von einem Mann wäre, wie ihre Mutter von ihm – sie hat es getan um mich zu schützen und hat mich dadurch gefährdet. Wie krass das für sie sein muss. Sie hat mir immer die Haare kurzgeschnitten – ich hab sie dafür gehasst, dass sie meine geliebten Haare abschneidet und ich weder Puppen noch Kleider haben durfte. Heute weiß ich die Liebe und Sorge in dieser Geste zu schätzen. Als Kind habe ich nur gesehen wie grässlich es war immer wieder mit einem Jungen verwechselt zu werden. Ich wäre so gerne Mädchen gewesen. Es half. Auf eine Art half es, weil ich eine taffe, freche Rolle einstudierte. Mit Pipi Langstrumpf und der roten Zora als Vorbilder entwickelte ich mich zu einem rotzfrechen Mädchen, was immer aufmüpfig war. Mama sagte immer, wir gehen mit aufrechtem Gang und kämpfen gegen die Ungerechtigkeit. Sie gingen auf die Strasse für Amnesty, für Kriegsdienstverweigerer und Frieden. In unserem Dorf wurden wir eh komisch angesehen. Meine Eltern waren beide unehelich geboren und das in einer katholisch konservativen Region. Sie hatten eine Tugend daraus gemacht – aus dem Außenseiter sein: kein Sportverein, kein Schützenverein, keine Kirche – dafür waren sie die ersten aus dem Dorf, die studieren gingen. Sie gründeten die Grünen, wurden Ökos und lasen Unmengen von Büchern über ungerecht behandelte Außenseitergruppen wie die Natives in Amerika. Ich lernte sehr viel von ihnen und bin dankbar für diesen Teil meiner Kindheit, weil der mich überleben ließ.
Ich hab die Welt immer anders angesehen als die anderen Mädchen. Als die Jungs aus meiner Klasse ein Zeugen Jehova Mädchen hänselten hab ich sie verprügelt. Nicht das ich damit wahnsinnig erfolgreich gewesen wäre – ich war weder eine Schlägerin noch besonders groß oder stark – aber sie ließen sie in Ruhe. Ich verstand durch diese Situation den Unterschied zwischen ihr und mir. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen dagegen in einer ohnmächtigen Opferrolle zu sein, obwohl ich spürte, dass ich wie sie nicht dazu gehörte. Irgendwas in mir, ließ mich immer mein Kinn hoch tragen und niemand hätte gewagt mich zu hänseln. Immer wieder geriet ich in solche Situationen, dass Menschen misshandelt wurde und ich dazwischen ging. Ich hab mich mal in der U-Bahn auf dem Rücken eines riesen Kerls festgekrallt, damit er aufhörte einen kleineren Mann zu verprügeln. Er hörte auf. Ich hatte immer Erfolg damit. Die Kehrseite war, dass ich als Frau nicht ankam. Männer hatten so was wie Angst vor mir. Ich weiß nicht genau. Den meisten war auf jeden Fall zu krass. Aber über diese taffe, zu laute, coole Art hatte ich Erfolg. Darüber konnte ich in Kontakt gehen. Nicht verbunden, aber irgendwie dabei sein.
Sowohl die viel zu frühe Sexualisierung durch meinen Stiefopa, wie die Distanz meines Vaters, der sich nie getraut hat eine natürlich Nähe zu seinen Töchtern aufzubauen, gab es in mir eine völlig verdrehte Idee über Liebesbeziehung. Wie oft habe ich das erlebt, bei mir und auch bei Patientinnen: wir wiederholen so lange die unheilvollen Erlebnisse, inszenieren sie unbewusst nach, wieder und wieder die gleichen Erfahrungen, bis wir endlich anhalten und hinschauen. Ich provozierte meine Partner zur Gewalt, zu dissoziativen Sex und natürlich alles in einem Klima des Nichtredens. Denn eines hatte ich schon als kleinstes Kind gefressen: das Reden mich umbringen würde, mich dann jeder hassen und verlassen würde, also schwieg ich. Und zankte auf einem anderen Kriegsschauplatz darum endlich gesehen und geliebt zu werden. Ist mir bisher nicht gelungen. Seit acht Jahren bin ich lieber allein.


     Selbstportrait 1990, rechte und linke Hälfte nicht verbunden.

Meinen ersten Schwung Therapien machte ich mit Anfang zwanzig um aus der Magersucht zu heilen. Doch als die Frage nach sexuellem Missbrauch das erste Mal auftauchte, am Ende der dreijährigen Analyse, brach mein ganzes System zusammen. Ich verdächtigte meinen Vater, auf meinen Stiefopa kam ich gar nicht und als Folge davon brach meine Familie über viele Jahre den Kontakt zu mir ab. Ich weiß bis heute nicht, wie ich das wieder gut machen kann. Ich weiß, was ich wollte - das war Hilfe und endlich gehört werden. Da war niemand der mir glaubte, dass dieser Knoten in mir so weh tat, dass ich dachte sterben zu müssen. Ich wiederholte mein erstes Trauma, das Verlassenwerden von der Familie. Um zu überleben stürzte ich mich in die Arbeit. Ich erholte mich langsam davon, brach alle Therapien ab.
Das passierte zum Beginn meines Kunststudiums an der Kunstakademie in Düsseldorf.
Und wie der Zufall es so wollte, kam ich auf die Idee, Huren zu fotografieren. Ich suchte in Bordellen Frauen, die ich fotografieren konnte und fand sie. Schon nach einer Woche hatte ich eine Frau kennengelernt, die in der Hurenbewegung arbeitete und zufällig war eine Woche später der Jahreskongress der Hurenbewegung in Düsseldorf und sie schleppte mich mit dahin. Ich lernte ich sie alle kennen, die großen Frauen der Hurenbewegung, die damals in allen großen Talkshows für die Anerkennung des Berufes Hure saßen. Wir befinden uns Anfang der 90er. Es war eine wilde Zeit, in der ich das erste Mal politisch arbeitete. Ich gründete eine unabhängige Selbsthilfegruppe in Düsseldorf, die in der Frauenberatungsstelle ansässig war. Unabhängig in so fern, dass sie nicht mit der Kontrollbehörde, dem Gesundheitsamt, kooperierte. Ich fuhr viel im deutschsprachigem Raum umher und besuchte Bordelle, Nightclubs, Puffstrassen, Straßenstriche – alles was es hier so gibt und machte Fotos. Ich lernte viel über das Rotlichtmilieu. Das ist noch mal, wie vieles eine ganz eigene Geschichte.

     Selbstportraits, 1990

Das wichtigste war die Erfahrung, dass ich kein einziges meiner Vorurteile bestätigt fand. Da waren weder Zuhälter, noch Zwänge, noch Drogen. Ja, das gibt es, aber eben nicht mehr als es im Rest der Gesellschaft schlagende Partner gibt oder den Zwang eine Arbeitsstelle zu behalten, die man zum kotzen findet oder wie Menschen jeder Gesellschaftsschicht Drogen nehmen. Es ist nicht so, dass in der Berufsgruppe der Huren diese Phänomene besonders hervortreten. Und ich lernte noch etwas über Vorurteile: keiner gibt sie auf. Sie sind festgeschrieben, wie in Stein gemeißelt. Ich konnte mir den Mund fusselig reden bei all den Leuten, die angeblich nie nie ins Bordell gingen oder gehen würden - mir hat keiner geglaubt. Ich hängte Fotoportraits von Frauen aus dem Rotlichtmilieu neben andere Frauen ohne deren Beruf zu benennen und natürlich gab es ein Who is Who Spiel damit und natürlich hatte keiner der Betrachter recht. Das war eine schockierende Erfahrung und ich gab das politische Kämpfen auf. Damals. Denn es entsprach meinem damaligen Erfahrungshorizont, denn auch in meinem Leben hatte ich meine Familie verloren, weil ich auf der Suche nach Wahrheit ihre Gefühle zu sehr angetriggert hatte - doch das kapierte ich damals nicht.

Ich ging nach Innen, rauß aus der Öffentlichkeit - bekam zwei Töchter, heiratete und schloss mein Studium ab. Heute sehe ich, wie gut das war, denn ich baute mir eine Base auf der ich stehen konnte. Machte meine erste 3-jährige Ausbildung in Sachen Heilung. Ich wurde sehr erfolgreich als Künstlerin und auf dem Höhepunkt meiner Karriere, bevor ich das zweite Mal zusammenbrach nach Scheidung und Firmenpleite, befasste ich mich wieder mit einer Außenseitergruppe. Ich machte Werbefilme für Müllmänner, die ich als Helden darstellte. Es war ein wundervolles Projekt für mich, weil ich diesmal den Erfolg sehen konnte. Ich sah, wie gut diese Kampagne den Müllmännern tat und das ich sie für die Müllmänner gemacht hatte, nicht für Finanzerfolg der Geschäftsführung. Es gab einen Augenblick, der mich das erste Mal in meinem Leben wirklich aufschauen ließ. Das war als ich mit dem Leiter der Kommunikationsabteilung der AWISTA unseren ersten Film über die Jungs der Müllabfuhr in der Kantine morgens um sechs abspielte. Ich werde das nie vergessen, wie die Jungs aufsprangen und jubelten, wie sie Standingovations gaben. Solch eine Euphorie hatte ich noch nie erlebt. Und sie galt nicht mir, sie galt den Jungs auf der Leinwand. Sie bejubelten ihre eigenen Jungs. Sie waren so stolz und glücklich. Ich stand da mit Tränen in den Augen und begriff, dass hier an dieser Stelle Kunst genau richtig ist. Blauperückte Müllmänner. Und sie jubelten, weil sie gesehen und gewürdigt waren. Es war so viel Freude und Spaß dabei. Wunderschön.
Ich castete für den Kinowerbefilm nur aus den Müllmännern, fand dort sogar eine Band, die mir den Musiktitel für den Kinospot vertonte. Ein Jahr lang fuhren sie die Filmplakate auf ihren Trucks durch die Stadt, posteten ihre Zeitungsartikel über die Dreharbeiten in ihren Windschutzscheiben und sie strahlten, sie wuchsen. Ich habe dort das erste Mal im Leben etwas bewegt. Ich habe gesehen, dass Veränderung funktioniert und wie wundervoll das sein kann. Menschen, die nicht gesehen werden, sichtbar zu machen. Menschen, die wie der letzte Dreck behandelt werden, als Helden dazustellen. Ich wusste nicht, wieviel das mit mir zu tun hatte, heute weiß ich das, dass diese Müllmänner für all die ungesehenen Anteile in uns allen standen, die nicht gesehen werden.

     2007

Müllmänner krempeln die Arme hoch, wo wir anderen alle wegschauen. Sie schauen der Wahrheit ins Gesicht und räumen auf. Das hat viel mehr mit uns zu tun, als wir denken. Gesellschaftlich betrachtet gibt es ne Menge Scheiße aufzuräumen, besonders im Hinblick auf sexuellen Missbrauch. Ich wünschte, wir wären alle so mutig und zupackend wie die Müllmänner. Ich bin über ein Jahr mit ihnen auf ihren Trucks gefahren. Es sind kluge, klare anpackende Männer. Derb und Ehrlich. Ich lieb Müllmänner sehr!
Ich schaffte es nicht, dieses Projekt wo anders erneut zu starten. Ich schaffte es nicht meine Ehe zu halten. Ich schaffte es nicht stehen zu bleiben. Ich brach zusammen. Das war 2008. Der Zusammenbruch dauerte mehrere Jahre in denen ich dagegen ankämpfte. Ich versuchte noch ein Projekt und noch mehr Arbeit und hab noch ein Buch geschrieben und noch eins und nichts klappte mehr. 2011 gab ich endlich auf und ging in Traumatherapie. Als ich das meiner Familie mitteilte, trennte sie sich erneut von mir. Diesmal war es mir vorher klar und ich hatte vorher schon den Entschluss gefasst, dass ich dennoch weiter in Therapie bleibe. Ich baute mir ein festes Netz. Jeden Tag in der Woche hatte ich einen Heiltermin. Selbsthilfegruppe, Traumatherapeutin, Aufstellungsausbildung, Heilkreise, Gruppentherapie – alles gleichzeitig. Das hab ich gebraucht und das war genau richtig für mich.
Ich war so stark dissoziiert, dass ich jeden Tag eine Erinnerung daran brauchte, wo es lang ging. Ich konnte nicht in die Klinik gehen und auch keine Pharmazie schlucken. Das war nicht drin. Aus meiner eigenen Erfahrung dass ich meine Eltern mit vier Monaten das erste Mal verloren hatte, stand für mich fest, dass ich meine Töchter niemals verlassen würde. Also brauchte ich einen klaren Weg bei dem ich hier zu Hause bleiben konnte. Ich war auf Hartz 4 und hatte nicht viel Geld, doch irgendwie funktionierte es. Ich konnte viel über die Heilpraktikerversicherung abrechnen, stotterte Therapiegelder ab. Bekam viele Heilsitzungen geschenkt, baute selber Heilkreise auf und schöpfte alles aus, was die Kasse zahlte. Ich lernte Meditieren und Yoga – das sind meine beiden Standbeine, die mich jeden Tag seitdem erden und mit mir drinnen verbinden. Ich lernte Innere Kind Übungen, ebenfalls eine Standartübung, die ich inzwischen fünf Jahre lang schon mache.
Inzwischen bin ich ausgebildete Schamanin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, hab Aufstellen gelernt, meine eigene Therapie beendet und meine Praxis eröffnet. Ich habe ein eigenes Format der Selbsthilfe entwickelt, die 13 Schritte, die ich lehre. Ich stehe gut da. Ich kann heute alleine sein mit mir, was eine große Leistung ist. Früher bin ich immer ausgegangen, wenn ein Gefühl in mir hochkam. Ich konnte nicht alleine sein. Ich kann heute meine Tage genießen, ich liebe mein Leben. Die Zeit mit meinen Kindern, mit meinen Freunden ist so wertvoll. Ich hab Freunde. Das ist auch neu. Ich kann mich komplett auf andere Menschen konzentrieren und gleichzeitig bei mir bleiben. Früher habe ich nur von mir erzählt und gleichzeitig geschaut, was andere brauchten und versucht alles allen recht zu machen. Und das obwohl ich gleichzeitig nicht über meinen Tellerrand sehen konnte. So vieles hat sich verändert. Ich spüre es, wenn ich mit meinem Enkelkind spiele. Ich kann da sein voller Liebe und Stille über einen langen Zeitraum – daran war früher nicht zu denken.

Eine große Lektion war auch das Lernen für die Heilpraktikerprüfung. Ich konnte mich früher nicht konzentrieren. Ein Studium bei dem ich Wissen hätte lernen müssen, daran war nicht zu denken. Ich konnte weder Prüfungen standhalten, noch irgendwas behalten oder mich länger als ein paar Sekunden auf etwas konzentrieren. Filme machen oder Kunst war da optimal, alles was Multitasking brauchte, konnte ich gut – dieses dauernd hin und her springen der Gedanken – aber bei einer Sache bleiben, dass war nicht möglich. Ein halbes Jahr habe ich jeden Tag vier Stunden gelernt und es ging weniger um das Wissen als um die Fähigkeit der Konzentration, die ich erlernen musste.Vielleicht hört sich das komisch an, aber ich war mega stolz auf mich, dass ich diese Prüfung direkt geschafft habe.

Es ist nicht so, dass ich nun, wo meine Therapie abgeschlossen ist, alles wieder fit ist in mir, so wie bei von Beginn an gesunden Menschen. So wird es nie sein. Ich muss jeden Tag meine Übungen machen. Tue ich das nicht, falle ich sofort zurück in den alten Nebel der Dissoziation.
2013 war es, als ich bemerkte, dass mein Gedächtnis noch schlechter wurd als vorher. Ich hatte damals trotz der Traumatherapie noch keine Erinnerung und ich spürte, dass ich immer mehr in der Amnesie landete. Mein Kopf fühlte sich immer mehr wie Watte an, ich saß sozusagen grinsend in der Ecke, lachte zu laut, hüpfte zu wild, ging nur noch Tanzen und meine Wahrnehmung war Nebel. Ich konnte keinen Gedanken länger als Sekunden halten. Und wehe einer kam und sagte was gegen mein Konstrukt was ich mir zur Tarnung gebaut hatte, dann stritt ich. Als ich bemerkte, dass ich sogar meine Kinder vergesse und ich mehr und mehr meinen Alltag nicht mehr organisieren konnte, bekam ich echt große Angst – ich spürte, dass ich alles verliere, was mir etwas bedeutet – und ich wusste intuitiv, dass mein einziger Weg war, dass ich mich konfrontiere. Ich musste lernen damit klar zu kommen, was ich immer verdrängte. Ich musste lernen zu tragen, was ich an schlimmen Gefühlen in mir hatte – ich wusste ganz genau, dass ich ansonsten noch mehr abdriften würde. Ich ging damals sechs Wochen mit meiner großen Tochter auf den Jakobsweg und ich hatte ein Motto für mich: Ich laufe jetzt zurück ins Leben. Ich will mich erinnern! Jeden Tag, bei jedem Schritt habe ich dieses Mantra gedacht: ich will mich erinnern. Ich hab sie gerufen, die Erinnerungen. Es dauerte noch bis Ende des Jahres, auf einem Meditationsretreat, 10 Tage Schweigen und 12 Stunden täglich meditieren, brachten endlich den Durchbruch: eine Überschwemmung von Bildern. Das waren krasse Tage. Plötzlich war alles wieder da. Glasklar die Bilder, als hätte jemand eine Filmdose geöffnet. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich kann es nicht besser erklären, aber zu dissoziieren fühlt sich an wie sterben. Mir wird immer noch schlecht und es ist grauenhaft die Vorstellung noch mehr oder wieder solch ein Zombi zu werden, der sich nicht spürt. Da will ich nie wieder hin zurück! Und ich sah über all die Jahre, dass meine Kinder mich nachmachten in allem was ich ihnen vormachte und als ich bemerkte, dass sie auch meine Überlebensstrategien übernahmen und sich selber zum Zombi machten, damit ich nicht ihr Leid auch noch spürte – da war total klar, so geht das nicht weiter. Es kann nicht eine Generation nach der anderen heran wachsen und alles geht weiter und weiter... Ja, meine Kinder waren ein Motor. Ich habe mir 2013 geschworen, dass ich aufwachen will, dass ich mich erinnern möchte, dass ich lieber alle Schmerzen fühle als ein Zombi zu sein. Ich will Wahrheit, ich will alles spüren, lieber jede Hölle spüren als meine Kinder verlieren, als im Nebel des Vergessens unterzugehen. Immer wieder, jeden tag, egal wie lange es dauert. Ich will meinen Kindern diesen Weg zeigen und ich werde ankommen in der Heilung damit meine Kinder diesen Weg nicht gehen müssen.
Und ich ging durch die Hölle und habe mich darin gefunden. Es war großartig, doch auch das ist eine weitere Geschichte. Und jetzt bin ich hier. Ich spüre mich, ich sehe mich, ich liebe mich und ich liebe dieses Leben mehr denn je. Ich achte meinen Lebenswillen, meinen Mut, meine Kraft. Ich bin so stolz auf meinen Weg. Wenn ich mich heute mit meinen Töchtern sehe, weiß ich, dass sich alles gelohnt hat. Jetzt sind wir zusammen und verbunden. Und wir sind im Hier und Jetzt und können lachen und weinen. Ich weiß wie ich die Gleichzeitigkeit der Gefühle lebe. Es gibt ein dauerhaftes Glücksgefühl in mir, auch wenn mit innere Stürme packen oder ein neuer Prozess in mir ansteht. Nichts wirft mich mehr um. Doch das geht nicht einfach so. Ich muss jeden Tag meditieren und meine Übungen machen, die mich mit Innen verbinden. Würde ich das nicht tun, würde ich wieder dissoziieren. Da muss ich total wachsam und diszipliniert sein. Nach ein paar Stunden hier am Computer muss ich anhalten. An manchen Tagen kann ich nicht arbeiten und ich weine nur. Das wird immer besser, aber nur mit kontinuierlichen Übungen. Ich werde nie wieder so Leistungsfähig sein, wie ich früher war als ich Arbeiten zur Ablenkung betrieben habe. Und den äußeren Ansprüchen zu genügen, bzw damit klar zu kommen, dass ich nicht genüge, fällt mir immer noch schwer.
Ich bin langsam wie eine Schnecke, sensible wie eine Mimose, feingliedrig und beweglich wie eine Elfe – und das alles ist mein Potential. Nicht mein Dilemma. Genauso wie ich stark bin wie ein Bär und brüllen kann wie ein Drache, kämpfen wie ein Tiger. Mir macht keiner mehr was vor und ich steh auf meinen Beinen. Das alles hab ich gelernt auf diesem Weg und das ist mein Gewinn. Ein Gewinn, den ich ohne diese Erfahrungen niemals in mir entdeckt hätte.
Und in der Arbeit mit Menschen nach einem sexuellen Missbrauch, ist es genau das, was ich brauche. Ich kann sie spüren, ihre Wunden, ihre Verletzlichkeit, ihre Feinheit, ihre Liebe darunter und gleichzeitig bin ich stark genug um das Feld zu halten. Ich geh in jede Hölle und komm auch wieder raus. Mit nem Korb voller Gold komm ich aus jeder Hölle raus. 

Ich werd bald 50 und ich hab noch ne Menge vor.
Nina Schmitz, November 2016

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