Sonntag, 20. November 2016

Erster Kongress des Betroffenenrates für Betroffenen sexuellen Missbrauchs

Ich habe das Wochenende auf dem Kongress MitSprache verbracht, der vom Betroffenenrat des Bundes organisiert wurde. Wir alle kennen die Plakate, die seit dem Frühling in der Stadt auftauchen mit dem großen X darauf: Kein Raum für Missbrauch. Auf politischer Ebene passiert seit Jahren etwas, das kann man hier nachlesen: https://beauftragter-missbrauch.de/ so war auch der unabhängige Beauftragte des Bundes für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs Johannes Röhrig mit seinem großem Stab an Mitarbeitern die ganze Zeit anwesend. Ohne deren Organisationshilfe und Gelder hätte der Kongress wohl nicht stattgefunden. Es war ein internationaler Kongress mit Gruppen aus London bis Polen, USA bis Nicaragua.
Es waren Hilfegruppen aus ganz Deutschland da, Aktivistengruppen, politische Gruppen und unorganisierte Betroffene. 10 Künstler haben ihre sehr intimen und berührenden Arbeiten gezeigt und es gab etwa 30 verschiedene Workshops zum Thema. Ich bin mit super viel neuem Input nach Hause gekommen, mit einem neuen Netzwerk und ganz vielen Ideen. 



Doch am meisten berührt, tief berührt, haben mich die Menschen. Wenn 200 Betroffene von sexuellem Missbrauch in der Kindheit sich treffen, dann ist selbst auf einem politisch orientierten Kongress ein Miteinander, ein Mitfühlen und gemeinsam Dasein, eine Solidarität und ein Verständnis zu spüren, wie ich es lange nicht mehr im Alltag erlebt habe. 


Mit großer Offenheit habe ich verschiedensten Geschichten erzählt bekommen. Von rituellem Missbrauch, Missbrauch, der in den beiden Kirchen erlebt wurde, in Kinderheimen, von Vätern die weiterhin Bürgermeister blieben, obwohl verurteilter Täter, von Müttern die ihre jugendlichen Söhne sexuell missbrauchten, von Menschen die ihre Familien seit 20 Jahren nicht gesehen haben, von Schwestern die gemeinsam da waren. Immer wieder habe ich geweint oder Taschentücher weitergereicht. Jeder dort wusste wie es sich anfühlt, vor allem auch die sekundäre Viktimisierung und das nicht drüber reden können, selbst mit wohlwollenden Freunden nicht. Das sich verstellen müssen, nicht authentisch sein dürfen weil die Wahrheit zu hart ist für die Mitmenschen. Die Einsamkeit, die daraus entsteht. Menschlich völlig verständlich, wer setzt sich schon gerne mit solch Horrorgeschichten auseinander und auf der anderen Seite entsteht so genau der Taburaum in dem sexueller Missbrauch stattfindet. Die Täter/Innen sind dadurch geschützt und die Opfer isoliert. Mir stellt sich immer wieder die Frage, wie hier etwas ändern? – außer mit penetrantem immer wieder Outing, dranbleiben und langsam die Fähigkeit der Nichtbetroffenen in der Konfrontation erweitern. Auch wenn die Verdrehung, das es die Opfer sind, die Aufklärungsarbeit tun müssen, krass ist, ist dies selbst in 2016 immer noch der Alltag. Und nur die Auflösung dieses Taburaumes ist eine langfristige Prävention für unsere Kinder. Wie erschaffen wir also eine Gesellschaft, in der Opfer ihre Geschichten erzählen können, Familien und Freunde dies positiv „er-tragen“, sich so alle sensibilisieren für die Täter/Innen und denen im Vorfeld anders geholfen sein kann. Wie erschaffen wir eine Gesellschaft in der Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, sich VORHER outen können? Wie kann ein verantwortlicher Umgang damit wachsen, damit es keine Übergriffe gibt und keine Bilder von Gewaltübergriffen in diesen Menschen wachsen
Ich höre so viele sagen, sie haben damit nichts zu tun – doch wenn jedes 3. Mädchen und jeder 5. Junge bis heute missbraucht wird, dann haben wir alle damit zu tun. Dann wissen wir eben genau wegen diesem unausgesprochenen Redeverbot nichts davon. Dann gibt es im Umfeld, der Familie und im Freundeskreis auf jeden Fall Betroffene und Täter/Innen, nur redet niemand darüber. Ich meine malt euch das bitte mal auf: ein Kreis, halb Männer, halb Frauen, davon dann ein Drittel der Frauen sind Opfer und ein Fünftel der Männer plus genauso viele Täter/Innen und dann schaut bitte mal hin: das ist über die Hälfte unserer Gesellschaft. Und das sind nur die direkt Betroffenen und nicht die systemisch in der Familie Mitbetroffenen oder Partner und Partnerinnen. Es betrifft also jeden von uns. Davon reden wir hier. 
Wie selten begegne ich jemandem, der wirklich fragt, was genau ist dir denn passiert und wie alt warst du und wie ging es dir damit, wie geht es dir heute, gerade jetzt und magst du mit mir reden und mir davon erzählen? Und das obwohl ich es überall öffentlich oute. Ja, wir Betroffenen können nicht immer darüber reden, aber wenigstens die Frage danach stärkt und verändert das Verhältnis der bestehenden Tabuisierung. Mich hat diese Realität sehr bestärkt meinen politischen Weg des Outings, des Schweigen brechens in der Öffentlichkeit weiter zu gehen. Auch wenn es jedesmal ein Feuerlauf für mich ist, für jeden der Betroffen ist. Dennoch ist der einzige Weg, den ich seh, um unsere Kinder zu schützen.

Etwas war sehr deutlich auf diesem Kongress: Betroffene aus sexuellem Missbrauch haben eine große Sensibilität und Umsicht für ihre Mitmenschen entwickelt. Noch nie habe ich eine Veranstaltung erlebt, die so sehr an den Bedürfnissen der Teilnehmer orientiert war. Auch und gerade für die Minderheiten. Es gab Bereiche wo Betroffene mit Assistenzhunden sein konnten und hundefreie Zonen. Es gab Fotofreiezonen, einen klaren Umgang mit der Presse, Ruheräume für die Teilnehmer und ein Team von Therapeuten für Akuthilfe vor Ort. Eine klare Organisation und gute Transparenz auf allen Ebenen.
Sehr berührt hat mich auch ein Kunstwerk über die Betroffenen von sexuellem Missbrauch, die nicht da sein konnten. Betroffene eines sexuellen Missbrauchs, die nicht überlebten. Die sich umgebracht haben, an Krebs starben oder an Überdosen von Drogen. Renate Bühn arbeitet seit Jahren an diesem Thema: https://renatebuehn.de/
Oder auch der Orginalflyer in ihrer Installation, der von Betroffenen des sexuellen Missbrauchs von Pater Murphy an 200 taubstummen Kindern in den USA stammte. In 1976 gemacht und vor der damals betroffenen Kirche verteilt. Ein Gast des Kongresses war ein Psychologe, aus eben dieser Region, der völlig gerührt von diesem Wunder erzählte: er arbeite mit eben diesen Kindern, also heute Erwachsenen und nun hier auf einem anderen Kontinent, 30 Jahre später, taucht solch ein Flyer auf. Auf welchem Weg der auch immer hierher fand, er machte deutlich sichtbar, dass keine Aktion gegen Missbrauch umsonst ist. Das ist die Geschichte vom Flügelschlag eines Schmetterlings, der am anderen Ende einen Orkan auslöst. Wir wirken, wir Menschen. Unsere Aktionen haben eine Auswirkung, die wir vorher nicht einschätzen können. Sie nimmt ihren eigenen Lauf.
Dieser Kongress war kein Trauerklostreffen, ganz das Gegenteil. Ich war so erstaunt über die Kraft der Betroffenen. Ihre Wege, Aktionen und ihr Engagement waren mitreißend. Der Mut, selbst auf der Bühne seine Geschichte zu erzählen, war ansteckend. Speaking Out. Das Schweigen brechen. Geschichten von Kunstaktionen. Flashmobs. Von Forschungen und Petitionen. Ich hatte oft Tränen in den Augen, weil mich die Kraft des Überlebens, die Lebensfreude und die Lust am Leben mit großer Wucht traf. Und immer wieder die Solidarität und der Beistand untereinander. Es passiert was und wir sind nicht alleine! 

Nina Schmitz, Berlin, 20.11.2016

1 Kommentar:

  1. LIebe Nina, du sprichst mir so aus dem Herzen. Auch ich habe den Kongress so empfunden. Es warso viel Spirit in diesem Zusammensein. Ja, die Betroffenheit aller war zu spüren, aber vor allem die Entschlossenheit zu LEBEN.Es tat so gut nicht allein zu sein, nicht in einer kleinen Gruppe hinter Türen, einfach den Mut für Speaking out zu entwickeln. Danke für deine Worte und vergiss mich beim Flashmob nicht ;->)) In Liebe! Ute

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