Wenn wir dem Opfer in uns folgen, dann finden wir dahinter, verborgen, unsere Tatkraft
wieder, unsere Verspieltheit – mit den Millionen kreativen Lösungen, die unser
Geist hervorbringen kann. Doch wer traut sich schon gerne in sein Opfer???
Was denken wir über Opfer? Überprüft euch selber. Wie ist das
Stigma? Warum trauen sich nur so wenige von ihren Erfahrungen als Opfer zu
erzählen? Warum outen sich nur so wenige? Was sind Erfahrungen derer, die sich
outen? Wie werden wir Opfer behandelt und was spiegelt das in meinem eigenen
Denken über mich selber wieder? Denke ich das wirklich über mich oder habe ich
von klein auf eine Bewertung geschluckt über Opfer, die Gefühle von mir
verkoppelt hat mit einer bestimmten Bewertung. Wie werde ich mir, mit meinen
verschiedenen Anteilen in mir gerecht???? Wie gehe ich authentisch und heilend
aus dieser Situation hervor?
Ich kennen viele Betroffene von sexuellem Missbrauch, die in
Führungspositionen sind und niemals auch nur ein Wort darüber verlieren dürften
bei ihrer Arbeit, weil sie ihre Anstellung verlieren würden – weil sie sofort
niemand mehr ernst nehmen würde – was ist da los??? Ich, die sich outet, kenne
zB folgenden Satz, die mir entgegen schlägt: Man kann doch nicht den Teufel mit
dem Belzebub austreiben. Übersetzt: entweder du bist Opfer, oder du kannst
Opfern helfen – aber das eine schließt das andere aus – entweder du hast
Schmerzen, dann bist du arm oder du hast alles überwunden und bist wieder ok,
dann bist du reich. Ent oder werder aber beides? Beides gleichzeitig, das geht
doch nicht!
Hier meine Auflistung über alle Stigmen, die mir begegnet sind
zum Thema Opfer: Opfer sind arm. Kleine arme Kreaturen, zerbrechlich, brauchen
Schutz, können nicht alleine. Eigentlich wird einem eher schlecht, wenn man das
mitbekommt und wendet sich lieber ab. Das ist zu krass. Opfer sind unfähig,
bewegungslos, vielleicht depressiv. Opfer sind krank, verletzt, bekommen nichts
auf die Reihe, wollen nur bemitleidet werden. Ziehen alle Aufmerksamkeit auf
sich. Mangel pur. Eigentlich stellen sie sich an und wollen sich nur drücken.
Ist ja langsam auch mal gut. Irgendwann muss doch mal gut sein. Man kann sich
auch anstellen. Eigentlich machen
sie sich selber zum Opfer, weil sie nicht loslassen wollen, eigentlich sind sie
selber schuld. Sie wollen nicht arbeiten. Sie wollen nur getragen werden. Sie
sind zu schwer, immer schlecht gelaunt. Opfer meidet man lieber, wenn man ein
leichtes, fröhliches Leben möchte, hält man diese Energie besser von sich weg.
Harte Arbeit hilft gegen Opfersein. Die sollen mal richtig mit dem Körper
arbeiten, wie nach dem Krieg, dann spüren sie schon, was los ist. Opfer und
zupacken widerspricht sich. Opfer können sich nicht verteidigen. Alleine sind sie
schutzlos – das ist eine anstrengende Aufgabe. Besser man hält sie sich vom
Halse. Opfer können niemals führen oder klare Ansagen machen. Das widerspricht
sich auch. Ey, du Opfer, du bist echt nen Looser, verpiss dich hier.
Da gibt’s bestimmt noch ne Menge mehr und jeder hat da ein bisschen
anderes Bild im Kopf, aber positiv ist das nicht, was da an Werten in unserer
gemeinsamen Blase existiert.
Opfer von sexuellen Missbräuchen haben dann noch mal spezielle Stigmen:
Selber schuld, selber provoziert. Der Rock war zu kurz, die hats doch gewollt. Oder
der hat schon als Junge mit dem Po gewackelt. Die war schon als Kind so. Frigide
Alte, mit der ist nichts mehr los. Mit der/dem kann man keinen freien Sex
haben, nichts ausleben, als Frau/Mann völlig uninteressant. Die rächen sich an
den angeblichen Tätern. Alles erfunden und erlogen, weil sie nur Aufmerksamkeit
wollen.
Mein Fazit als Opfer ist:
1. Ich halte mich selber fern vom Opferanteil in mir. Ich tue so,
als gäbe es den nicht. Ich spiele eine Schauspiel, in dem ich den Menschen um mich
vormache, ich wäre leicht und lustig und alles ist super und cool. Mir geht es
sooo gut und alles ist ok.
2. Ich tue das Gegenteil von dem was erwartet wird: Opfer können
nichts alleine, ich mache alles alleine. Frage niemanden um Hilfe. Vorteil: ich
lerne alleine schwimmen. Nachteil: ich bin getrennt von allen Menschen. Überfordert,
weil Menschen sich immer gegenseitig brauchen und einsam.
3. Daraus resultiert, dass es einen Anteil in mir gibt, der
unbedingt geheilt werden brauch, was aber ohne Anerkennung des Anteiles nicht
geht. Dieser Anteil muss ich also umso deutlicher bemerkbar machen, weil dem
ist egal, mit welchen bewussten Stigmen wir uns hier im Außen rumschlagen, der
will nur heile werden, der Anteil. Eine negative Kettenreaktion beginnt, meist
schon in der Kindheit. Wir entwickeln Überlebensstrategien, wie das Gegenteil
tun von dem, was erwartet wird mit dem Blick durch die Stigmabrille.
Bei mir war das so, dass ich gearbeitet habe wie ein Berserker.
Ich hatte zwei Burnouts, vielleicht sogar drei, wenn man meinen Tinitus mal
mitzählt, den ich seit 18 Jahren habe. Ich hab gearbeitet anstatt meine
Lebens-Müdigkeit (klar hatte ich die Schnauze voll, als mir all das mit zwei
Jahren passierte..) zu spüren. Ich
hab taff gespielt, anstatt meine Schutzlosigkeit zu spüren. Ich hab immer
gelacht und mich leicht gemacht, anstatt so schwer zu sein, wie ich bin. Bis
hin zu 38 Kilo bei 165cm. (Das sind 20 kg weniger als ich heute habe! Das
Gewicht meiner innerer Kinder hab ich nicht nehmen wollen.) Immer früh
aufstehn, immer fleißig sein – dafür gabs Anerkennung. Genauso wie für
Schnelligkeit und Mut. Ich war immer laut, damit niemand sah, wie schüchtern
und leise ich bin – denn damit war ich schon als Kleinste hinten runter
gefallen – wenn ich gesehen werden wollte, dann musste ich schon richtig
auffällig sein. Ich glaub es gab noch mehr Überlebensstrategien, die dann
daraus resultierten und dann welche die mich die Überlebensstrategien überleben
ließen und so entsteht eine Kette von Verhalten und Auswirkungen, die eines als
Grundlage haben: die Vermeidung des Opfers.
Wenn Traumen in der frühen Kindheit passieren, dann hat das eine
Prägung auf alle Strukturen des Seins, die sich in diesem Leben entwickelt.
Nein, ich gehe nicht von Lebenslänglich aus, außer: man bleibt in dem Modus,
dass man das Opfer, also sich selber, meidet. Was man meidet, klebt an einem
wie Pech. Dann hat man die Garantie, dass man lebenslänglich hat. Und weil man
den Kreislauf nicht aushält, die Vereinsamung und parallel nicht gelernt hat,
seine Gefühle zu fühlen, fängt man
den nächsten Schritt an, man projektiert alles auf Außen - wird man zum Täter – ob durch aktive
Taten oder durch Manipulation, durch Dauermeckern wegen Unzufriedenheit, durch
Vernachlässigung der eigenen Kinder, meist emotional oder zeitlich, weil man ja
eben arbeiten muss wie ein Berserker.
Ok, ich will das stoppen, diesen Kreislauf, schon lange bin ich
dabei auszuscheren aus der Norm der Reaktionen. Als erstes kam die Zeit, wo ich
mein Gespinnst an Überlebensstrategien, Reaktionen darauf, Manipulation der
Umwelt, etc bewusst werden durfte – denn ich hatte es vor allem vor mir selber
total verborgen. Ich habe mich selber betrogen. Viele, viele Jahre lang. Das
mir einzugestehen, war echt schwer. Es war mein Netz, mein doppelter Boden und
der hatte funktioniert. Ich war eine erfolgreiche Künstlerin, verdiente viel
Geld und Anerkennung. Auch als Filmemacherin. Alle die mich damals schon
kannten, dachten ich wäre taff und toll und richtig im kommen – gesellschaftlich
betrachtet ging es mir damals richtig gut. Meine erfolgreichen Jahre, selbst in
der Vita liest sich diese Zeit als etwas super Positives! War es aber nicht. Es
war alles Fake, totale Fiktion. ICH war nicht da. Mich hats damals nicht
gegeben. Ich hab nicht gespürt, was ich damals erlebt habe. Weder den Erfolg,
noch die Sicherheit, noch das Glück. Auch nicht die Anerkennung der Preise und
Stipendien, die ich gewann oder das volle Bankkonto – ich habe nichts davon wirklich
mitbekommen, weil ich in mir im Mangel war. Es war nie genug, es hat nie
gereicht – ich musste immer weiter und schneller und mehr haben – musste immer
besser sein und noch mehr Anerkennung. Ich habe mich nie sicher gefühlt oder
gesehen oder geliebt. Wie auch. Ich war nicht da und die Wunden hatten ein Loch
in den Boden meines Fasses geschlagen – alles was oben rein kam, fiel unten
wieder raus. Ein Fass ohne Boden. Auf diese getriebene Art hat keiner eine
Chance und wieviele versuchen das. Wir machen vielleicht die richtigen Dinge, aber wir tun sie aus den
falschen Gründen. Es ist, als würde man auf dem Gleis daneben fahren und man
kommt nicht an, auch wenn man sich noch so sehr bemüht und abstrampelt – man
kann nicht ankommen, weil man auf dem Gleis daneben steht und der Zug nie dort
ankommen kann, wo deine wirklichen Gleise hinführen.
Ich habe nun fast fünf Jahre damit verbracht alles was Fake ist
aufzudecken und bin immer tiefer in mich hineingesunken. Mit allem was dazu
gehört. Und dazu gehört, dass die Anteile von damals, die nicht gefühlt wurden,
weil sie Opfer waren, zu schwer, zu schmerzhaft – die wollen jetzt gefühlt
werden. Und ja, es gibt viele Tage oder gar Wochen, da denke ich, es ist alles
viel schlimmer als früher – doch das stimmt nicht. Und diese tiefe Wahrheit
habe ich schon vor langer Zeit begriffen, deswegen wage ich mich überhaupt
diesen Weg weiter zu gehen.
Jetzt spüre ich meine inneren Anteile, inneren Kinder. Ich spüre
den Schmerz eines mit vier Monaten verlassenen Säuglings, den Schmerz eines mit
zwei Jahren sexuell benutzten Mädchens, das nein sagen wollte und dafür verprügelt
wurde. Ich spüre den Schmerz über meine Hilflosigkeit und die Trauer, dass
niemand mir half. Ich spüre den Schmerz über das alleingelassen sein, die
Hoffnungslosigkeit von damals. Ich, die Große, spüre die Kleine.
Es ist ein guter Weg, weil ich spüre, dass diese emotionale
Realität nichts mit meiner heutigen Realität zu tun hat – ich kann die
Projektionen zurücknehmen und die Gefühle von damals fühlen. Und indem ich mich
dem Kind widme, ist es das erste Mal nicht mehr allein. Mit jedem Tag wächst meine
Hoffnung wieder. Ich, die Große, kann jetzt um Hilfe bitten und mache hier in
der Jetztwelt die Erfahrung, dass mir geholfen wird. Ich bin verbunden in einem
Netz von Freunden und Familie, die mir jetzt helfen. Auch wenn sie es damals
nicht konnten, die die es jetzt können, helfen. Und gleichzeitig helfe ich
anderen Menschen, die den Weg gehen wollen, den ich schon hinter mir habe. Und
ich spüre, wie gut ich darin bin, denn ich weiß den Weg. Ich kann ihn für
niemanden gehen, aber ich kann jedem die Hinweise so gut erklären und ihn
begleiten, dass er durch kommt. Ich kenne die Stolperfallen und Abgründe und
Widerstände und den Selbstbetrug, den man aus Selbstschutz spielt. Ich weiß,
dass man den Teufel mit dem Belzebub austreiben kann – obwohl ich diese Satz
echt hasse, denn Opfer sein ist nicht der Teufel und die Erfahrungen die man
auf dem Weg gelernt hat sind nicht der Belzebub. Puh, mich hat dieser Vorwurf
total verletzt – als ich den letztens um die Ohren geschmissen bekam – und ich
durfte in mir wieder einmal eine tiefe alte Wunde finden: meine Looserin. Und
sie ist keine Looserin, sondern ein inneres Kind, was müde, traurig und
verloren ist – aber diesen Prädikaten wird der Stempel Looser aufgedrückt und
das will niemand sein, also hab ich sie abgelehnt. Ich hab mich nie ausgeruht
oder Pause gemacht oder gut für mich gesorgt, weil mich das dieser Looserin so
nah gebracht hätte. Nun gesteh ich mir mein Versagen ein, meine Langsamkeit bekommt Raum: die trainiere ich gerade in dem ich alles mit links mache, dank dem Rat meiner
Freundin. Und ich liebe das Wortspiel, das darin liegt: ich als Rechtshänderin
brauche Ewigkeiten um einen Text mit links zu schreiben – meine Langsamkeit wird
aktiviert. Etwas mit links machen bedeutet bei uns gleichzeitig etwas mit Leichtigkeit,
ganz einfach zu bewerkstelligen – und zusammengesetzt bedeutet das: Langsamkeit
ist Leichtigkeit! Das darf sich als neue Erkenntnis in mir setzen!!
In dem ich die Gefühle der Kleinen von damals fühle, fühlt sie sich wieder wohl bei mir und kehrt zurück.
Und der letzte Schritt auf dem Weg der Heilung, nachdem wir die
vordringlichen Gefühle wie Schmerz und Trauer und Einsamkeit, Ekel und all das
aus der Kindheit gefühlt haben ist: wir fühlen auch wieder die heilen,
kreativen, wilden, freien Anteile unserer inneren Kinder. Denn damals, mit dem
Trauma ist ein ganzer Teil unseres Daseins zurückgeblieben. Wir konnten den
Schmerz nicht fühlen und ließen das Kind in dem Alter, in dem es geschah dort
zurück, aber auch das Potential des Kindes blieb dort zurück. Wenn wir es nun
wieder Kontakt haben mit diesem abgespaltenem Anteil, und das Kind getröstet
haben in seinem Schmerz, seiner Trauer und Wut oder was auch immer die Gefühle
waren/sind – dies öffnet die Pforten für das ganze Dasein. Nun können wir uns
auf dieses innere Kind ganz einstellen und seine innere Kraft hervorbringen.
Die freie Kreativität und die Wildheit, die Kindern inne wohnt dürfen wir nun
genauso befreien, fühlen und in uns in den Arm nehmen.
Wenn wir dem Opfer in uns folgen, dann finden wir unsere Tatkraft
wieder, unsere Verspieltheit – mit den Millionen kreativen Lösungen, die unser
Geist hervorbringen kann. Wir wecken die Bewegung in uns erneut, das Spiel, die
Lebensfreude, die jedem Kind eigentlich inne wohnt, darf zurückkehren. Das
hüpfenden Kind, das singende Kind, das tanzende Kind, das malende Kind, das
forschende Kind, das die Natur liebende Kind, das die Tiere liebende Kind – all
diese Kindlichkeit, dieses wundervolle Potential möchte gefühlt sein, gelebt
sein. Diese Energie, diese Kraft, der Urvertrauen und Sicherheit innewohnt,
möchte zurückkehren in unser Leben und uns aktivieren.
Ich kann es nur immer wiederholen: es lohnt sich die Schmerzen
der Traumen als Große für die Kleine zu fühlen und sie zu trösten, denn als Geschenk
kommt dann das lachende heile Kind wieder zum Vorschein und mit ihm unsere
Heilung in Leichtigkeit und Freude!
Das alles eröffnet sich, wenn wir dem Opfer in uns folgen. Ich sag euch, dieser Weg lohnt sich. Nicht nur, weil ich jetzt jeden kleinesten Erfolg auch in mir spüre und dabei bin und stolz, glücklich und mich geliebt fühle, sondern auch, weil das Leben Spaß macht, selbst an den Tagen, wo ich als Große nochmal die Kleine spüre und mit ihr weine - aber wie Kinder so sind, wenn sie sich richtig ausgeheult haben, können sie auch wieder lachen! Es lohnt sich, dem Opfer nicht mehr auszuweichen, denn dahinter liegt die Leichtigkeit verborgen!!! Deswegen sähe ich in diesem Monat Mut für den Weg der inneren Kinder. AHO
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