Freitag, 3. März 2017

Hinter dem Opfer sitzt unsere Leichtigkeit

Wenn wir dem Opfer in uns folgen, dann finden wir dahinter, verborgen, unsere Tatkraft wieder, unsere Verspieltheit – mit den Millionen kreativen Lösungen, die unser Geist hervorbringen kann. Doch wer traut sich schon gerne in sein Opfer???

Was denken wir über Opfer? Überprüft euch selber. Wie ist das Stigma? Warum trauen sich nur so wenige von ihren Erfahrungen als Opfer zu erzählen? Warum outen sich nur so wenige? Was sind Erfahrungen derer, die sich outen? Wie werden wir Opfer behandelt und was spiegelt das in meinem eigenen Denken über mich selber wieder? Denke ich das wirklich über mich oder habe ich von klein auf eine Bewertung geschluckt über Opfer, die Gefühle von mir verkoppelt hat mit einer bestimmten Bewertung. Wie werde ich mir, mit meinen verschiedenen Anteilen in mir gerecht???? Wie gehe ich authentisch und heilend aus dieser Situation hervor?
Ich kennen viele Betroffene von sexuellem Missbrauch, die in Führungspositionen sind und niemals auch nur ein Wort darüber verlieren dürften bei ihrer Arbeit, weil sie ihre Anstellung verlieren würden – weil sie sofort niemand mehr ernst nehmen würde – was ist da los??? Ich, die sich outet, kenne zB folgenden Satz, die mir entgegen schlägt: Man kann doch nicht den Teufel mit dem Belzebub austreiben. Übersetzt: entweder du bist Opfer, oder du kannst Opfern helfen – aber das eine schließt das andere aus – entweder du hast Schmerzen, dann bist du arm oder du hast alles überwunden und bist wieder ok, dann bist du reich. Ent oder werder aber beides? Beides gleichzeitig, das geht doch nicht!

Hier meine Auflistung über alle Stigmen, die mir begegnet sind zum Thema Opfer: Opfer sind arm. Kleine arme Kreaturen, zerbrechlich, brauchen Schutz, können nicht alleine. Eigentlich wird einem eher schlecht, wenn man das mitbekommt und wendet sich lieber ab. Das ist zu krass. Opfer sind unfähig, bewegungslos, vielleicht depressiv. Opfer sind krank, verletzt, bekommen nichts auf die Reihe, wollen nur bemitleidet werden. Ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich. Mangel pur. Eigentlich stellen sie sich an und wollen sich nur drücken. Ist ja langsam auch mal gut. Irgendwann muss doch mal gut sein. Man kann sich auch anstellen. Eigentlich  machen sie sich selber zum Opfer, weil sie nicht loslassen wollen, eigentlich sind sie selber schuld. Sie wollen nicht arbeiten. Sie wollen nur getragen werden. Sie sind zu schwer, immer schlecht gelaunt. Opfer meidet man lieber, wenn man ein leichtes, fröhliches Leben möchte, hält man diese Energie besser von sich weg. Harte Arbeit hilft gegen Opfersein. Die sollen mal richtig mit dem Körper arbeiten, wie nach dem Krieg, dann spüren sie schon, was los ist. Opfer und zupacken widerspricht sich. Opfer können sich nicht verteidigen. Alleine sind sie schutzlos – das ist eine anstrengende Aufgabe. Besser man hält sie sich vom Halse. Opfer können niemals führen oder klare Ansagen machen. Das widerspricht sich auch. Ey, du Opfer, du bist echt nen Looser, verpiss dich hier.

Da gibt’s bestimmt noch ne Menge mehr und jeder hat da ein bisschen anderes Bild im Kopf, aber positiv ist das nicht, was da an Werten in unserer gemeinsamen Blase existiert.
Opfer von sexuellen Missbräuchen haben dann noch mal spezielle Stigmen: Selber schuld, selber provoziert. Der Rock war zu kurz, die hats doch gewollt. Oder der hat schon als Junge mit dem Po gewackelt. Die war schon als Kind so. Frigide Alte, mit der ist nichts mehr los. Mit der/dem kann man keinen freien Sex haben, nichts ausleben, als Frau/Mann völlig uninteressant. Die rächen sich an den angeblichen Tätern. Alles erfunden und erlogen, weil sie nur Aufmerksamkeit wollen.

Mein Fazit als Opfer ist:
1. Ich halte mich selber fern vom Opferanteil in mir. Ich tue so, als gäbe es den nicht. Ich spiele eine Schauspiel, in dem ich den Menschen um mich vormache, ich wäre leicht und lustig und alles ist super und cool. Mir geht es sooo gut und alles ist ok.
2. Ich tue das Gegenteil von dem was erwartet wird: Opfer können nichts alleine, ich mache alles alleine. Frage niemanden um Hilfe. Vorteil: ich lerne alleine schwimmen. Nachteil: ich bin getrennt von allen Menschen. Überfordert, weil Menschen sich immer gegenseitig brauchen und einsam.
3. Daraus resultiert, dass es einen Anteil in mir gibt, der unbedingt geheilt werden brauch, was aber ohne Anerkennung des Anteiles nicht geht. Dieser Anteil muss ich also umso deutlicher bemerkbar machen, weil dem ist egal, mit welchen bewussten Stigmen wir uns hier im Außen rumschlagen, der will nur heile werden, der Anteil. Eine negative Kettenreaktion beginnt, meist schon in der Kindheit. Wir entwickeln Überlebensstrategien, wie das Gegenteil tun von dem, was erwartet wird mit dem Blick durch die Stigmabrille.

Bei mir war das so, dass ich gearbeitet habe wie ein Berserker. Ich hatte zwei Burnouts, vielleicht sogar drei, wenn man meinen Tinitus mal mitzählt, den ich seit 18 Jahren habe. Ich hab gearbeitet anstatt meine Lebens-Müdigkeit (klar hatte ich die Schnauze voll, als mir all das mit zwei Jahren passierte..) zu spüren.  Ich hab taff gespielt, anstatt meine Schutzlosigkeit zu spüren. Ich hab immer gelacht und mich leicht gemacht, anstatt so schwer zu sein, wie ich bin. Bis hin zu 38 Kilo bei 165cm. (Das sind 20 kg weniger als ich heute habe! Das Gewicht meiner innerer Kinder hab ich nicht nehmen wollen.) Immer früh aufstehn, immer fleißig sein – dafür gabs Anerkennung. Genauso wie für Schnelligkeit und Mut. Ich war immer laut, damit niemand sah, wie schüchtern und leise ich bin – denn damit war ich schon als Kleinste hinten runter gefallen – wenn ich gesehen werden wollte, dann musste ich schon richtig auffällig sein. Ich glaub es gab noch mehr Überlebensstrategien, die dann daraus resultierten und dann welche die mich die Überlebensstrategien überleben ließen und so entsteht eine Kette von Verhalten und Auswirkungen, die eines als Grundlage haben: die Vermeidung des Opfers.

Wenn Traumen in der frühen Kindheit passieren, dann hat das eine Prägung auf alle Strukturen des Seins, die sich in diesem Leben entwickelt. Nein, ich gehe nicht von Lebenslänglich aus, außer: man bleibt in dem Modus, dass man das Opfer, also sich selber, meidet. Was man meidet, klebt an einem wie Pech. Dann hat man die Garantie, dass man lebenslänglich hat. Und weil man den Kreislauf nicht aushält, die Vereinsamung und parallel nicht gelernt hat, seine  Gefühle zu fühlen, fängt man den nächsten Schritt an, man projektiert alles auf Außen -  wird man zum Täter – ob durch aktive Taten oder durch Manipulation, durch Dauermeckern wegen Unzufriedenheit, durch Vernachlässigung der eigenen Kinder, meist emotional oder zeitlich, weil man ja eben arbeiten muss wie ein Berserker.

Ok, ich will das stoppen, diesen Kreislauf, schon lange bin ich dabei auszuscheren aus der Norm der Reaktionen. Als erstes kam die Zeit, wo ich mein Gespinnst an Überlebensstrategien, Reaktionen darauf, Manipulation der Umwelt, etc bewusst werden durfte – denn ich hatte es vor allem vor mir selber total verborgen. Ich habe mich selber betrogen. Viele, viele Jahre lang. Das mir einzugestehen, war echt schwer. Es war mein Netz, mein doppelter Boden und der hatte funktioniert. Ich war eine erfolgreiche Künstlerin, verdiente viel Geld und Anerkennung. Auch als Filmemacherin. Alle die mich damals schon kannten, dachten ich wäre taff und toll und richtig im kommen – gesellschaftlich betrachtet ging es mir damals richtig gut. Meine erfolgreichen Jahre, selbst in der Vita liest sich diese Zeit als etwas super Positives! War es aber nicht. Es war alles Fake, totale Fiktion. ICH war nicht da. Mich hats damals nicht gegeben. Ich hab nicht gespürt, was ich damals erlebt habe. Weder den Erfolg, noch die Sicherheit, noch das Glück. Auch nicht die Anerkennung der Preise und Stipendien, die ich gewann oder das volle Bankkonto – ich habe nichts davon wirklich mitbekommen, weil ich in mir im Mangel war. Es war nie genug, es hat nie gereicht – ich musste immer weiter und schneller und mehr haben – musste immer besser sein und noch mehr Anerkennung. Ich habe mich nie sicher gefühlt oder gesehen oder geliebt. Wie auch. Ich war nicht da und die Wunden hatten ein Loch in den Boden meines Fasses geschlagen – alles was oben rein kam, fiel unten wieder raus. Ein Fass ohne Boden. Auf diese getriebene Art hat keiner eine Chance und wieviele versuchen das. Wir machen vielleicht die richtigen Dinge, aber wir tun sie aus den falschen Gründen. Es ist, als würde man auf dem Gleis daneben fahren und man kommt nicht an, auch wenn man sich noch so sehr bemüht und abstrampelt – man kann nicht ankommen, weil man auf dem Gleis daneben steht und der Zug nie dort ankommen kann, wo deine wirklichen Gleise hinführen.

Ich habe nun fast fünf Jahre damit verbracht alles was Fake ist aufzudecken und bin immer tiefer in mich hineingesunken. Mit allem was dazu gehört. Und dazu gehört, dass die Anteile von damals, die nicht gefühlt wurden, weil sie Opfer waren, zu schwer, zu schmerzhaft – die wollen jetzt gefühlt werden. Und ja, es gibt viele Tage oder gar Wochen, da denke ich, es ist alles viel schlimmer als früher – doch das stimmt nicht. Und diese tiefe Wahrheit habe ich schon vor langer Zeit begriffen, deswegen wage ich mich überhaupt diesen Weg weiter zu gehen.
Jetzt spüre ich meine inneren Anteile, inneren Kinder. Ich spüre den Schmerz eines mit vier Monaten verlassenen Säuglings, den Schmerz eines mit zwei Jahren sexuell benutzten Mädchens, das nein sagen wollte und dafür verprügelt wurde. Ich spüre den Schmerz über meine Hilflosigkeit und die Trauer, dass niemand mir half. Ich spüre den Schmerz über das alleingelassen sein, die Hoffnungslosigkeit von damals. Ich, die Große, spüre die Kleine.
Es ist ein guter Weg, weil ich spüre, dass diese emotionale Realität nichts mit meiner heutigen Realität zu tun hat – ich kann die Projektionen zurücknehmen und die Gefühle von damals fühlen. Und indem ich mich dem Kind widme, ist es das erste Mal nicht mehr allein. Mit jedem Tag wächst meine Hoffnung wieder. Ich, die Große, kann jetzt um Hilfe bitten und mache hier in der Jetztwelt die Erfahrung, dass mir geholfen wird. Ich bin verbunden in einem Netz von Freunden und Familie, die mir jetzt helfen. Auch wenn sie es damals nicht konnten, die die es jetzt können, helfen. Und gleichzeitig helfe ich anderen Menschen, die den Weg gehen wollen, den ich schon hinter mir habe. Und ich spüre, wie gut ich darin bin, denn ich weiß den Weg. Ich kann ihn für niemanden gehen, aber ich kann jedem die Hinweise so gut erklären und ihn begleiten, dass er durch kommt. Ich kenne die Stolperfallen und Abgründe und Widerstände und den Selbstbetrug, den man aus Selbstschutz spielt. Ich weiß, dass man den Teufel mit dem Belzebub austreiben kann – obwohl ich diese Satz echt hasse, denn Opfer sein ist nicht der Teufel und die Erfahrungen die man auf dem Weg gelernt hat sind nicht der Belzebub. Puh, mich hat dieser Vorwurf total verletzt – als ich den letztens um die Ohren geschmissen bekam – und ich durfte in mir wieder einmal eine tiefe alte Wunde finden: meine Looserin. Und sie ist keine Looserin, sondern ein inneres Kind, was müde, traurig und verloren ist – aber diesen Prädikaten wird der Stempel Looser aufgedrückt und das will niemand sein, also hab ich sie abgelehnt. Ich hab mich nie ausgeruht oder Pause gemacht oder gut für mich gesorgt, weil mich das dieser Looserin so nah gebracht hätte. Nun gesteh ich mir mein Versagen ein, meine Langsamkeit bekommt Raum: die trainiere ich gerade in dem ich alles mit links mache, dank dem Rat meiner Freundin. Und ich liebe das Wortspiel, das darin liegt: ich als Rechtshänderin brauche Ewigkeiten um einen Text mit links zu schreiben – meine Langsamkeit wird aktiviert. Etwas mit links machen bedeutet bei uns gleichzeitig etwas mit Leichtigkeit, ganz einfach zu bewerkstelligen – und zusammengesetzt bedeutet das: Langsamkeit ist Leichtigkeit! Das darf sich als neue Erkenntnis in mir setzen!! 
In dem ich die Gefühle der Kleinen von damals fühle, fühlt sie sich wieder wohl bei mir und kehrt zurück. 

Und der letzte Schritt auf dem Weg der Heilung, nachdem wir die vordringlichen Gefühle wie Schmerz und Trauer und Einsamkeit, Ekel und all das aus der Kindheit gefühlt haben ist: wir fühlen auch wieder die heilen, kreativen, wilden, freien Anteile unserer inneren Kinder. Denn damals, mit dem Trauma ist ein ganzer Teil unseres Daseins zurückgeblieben. Wir konnten den Schmerz nicht fühlen und ließen das Kind in dem Alter, in dem es geschah dort zurück, aber auch das Potential des Kindes blieb dort zurück. Wenn wir es nun wieder Kontakt haben mit diesem abgespaltenem Anteil, und das Kind getröstet haben in seinem Schmerz, seiner Trauer und Wut oder was auch immer die Gefühle waren/sind – dies öffnet die Pforten für das ganze Dasein. Nun können wir uns auf dieses innere Kind ganz einstellen und seine innere Kraft hervorbringen. Die freie Kreativität und die Wildheit, die Kindern inne wohnt dürfen wir nun genauso befreien, fühlen und in uns in den Arm nehmen.
Wenn wir dem Opfer in uns folgen, dann finden wir unsere Tatkraft wieder, unsere Verspieltheit – mit den Millionen kreativen Lösungen, die unser Geist hervorbringen kann. Wir wecken die Bewegung in uns erneut, das Spiel, die Lebensfreude, die jedem Kind eigentlich inne wohnt, darf zurückkehren. Das hüpfenden Kind, das singende Kind, das tanzende Kind, das malende Kind, das forschende Kind, das die Natur liebende Kind, das die Tiere liebende Kind – all diese Kindlichkeit, dieses wundervolle Potential möchte gefühlt sein, gelebt sein. Diese Energie, diese Kraft, der Urvertrauen und Sicherheit innewohnt, möchte zurückkehren in unser Leben und uns aktivieren.
Ich kann es nur immer wiederholen: es lohnt sich die Schmerzen der Traumen als Große für die Kleine zu fühlen und sie zu trösten, denn als Geschenk kommt dann das lachende heile Kind wieder zum Vorschein und mit ihm unsere Heilung in Leichtigkeit und Freude!
Das alles eröffnet sich, wenn wir dem Opfer in uns folgen. Ich sag euch, dieser Weg lohnt sich. Nicht nur, weil ich jetzt jeden kleinesten Erfolg auch in mir spüre und dabei bin und stolz, glücklich und mich geliebt fühle, sondern auch, weil das Leben Spaß macht, selbst an den Tagen, wo ich als Große nochmal die Kleine spüre und mit ihr weine - aber wie Kinder so sind, wenn sie sich richtig ausgeheult haben, können sie auch wieder lachen! Es lohnt sich, dem Opfer nicht mehr auszuweichen, denn dahinter liegt die Leichtigkeit verborgen!!! Deswegen sähe ich in diesem Monat Mut für den Weg der inneren Kinder. AHO

3. Rauhnachtsbild - März 2017 - Acryl auf Papier, 84 x 60 cm

Ich sähe Mut. Mut für die Liebe. Mut für die Stille und das Halten. Mut für das Fühlen. Mögen wir alle alles spüren. Mögen die Zwischenräume unseres Denkens, die Leere, die Stille immer größer werden, damit die Liebe durchkommt. Mögen wir alle diesen Mut ernten damit wir dieses Paradoxon der Selbstbefreiung knacken können. Mit der Stille kehrt die Bewußtheit zurück und mit ihr die bedingungslose Liebe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen